von Klaus Wolschner
Die Sitzreihen sind einfach umgedreht worden. Die Jüdische Gemeinde Delmenhorst hält ihre Gottesdienste im früheren Kino-Saal der Volkshochschule ab. »Wir beten nach Osten«, erklärt Gemeindevorsitzender Pedro Becerra. Und das Klavier in der Ecke stehe nicht für den Gottesdienst, sondern nur für den Chor zur Verfügung. »Wir sind eine konservative Gemeinde.«
Nur wenige Gehminuten entfernt vom jüdischen Gemeindezentrum, gegenüber dem Rathaus, direkt am idyllischen Delmenhorster Stadtpark steht ein häßliches Haus im 80er-Jahre-Stil: das »Hotel am Stadtpark«. Der rechtsgerichtete Hamburger Anwalt Jürgen Rieger will die Immobilie über seine Londoner Briefkastenfirma kaufen, um daraus ein Schulungszentrum für Neonazis zu machen (Jüdische Allgemeine vom 10. und 17. August). Riegers Firma, eine »Ltd.«, trägt den Namen des vor vier Jahren gestorbenen Bremer Lehrers Wilhelm Tietjen. Dieser war bereits 1932 in die NSDAP eingetreten und hatte nach dem Krieg durch Aktienspekulation ein Vermögen erworben. Da er kinderlos blieb, wollte er mit seinem Erbe die Fruchtbarkeitsforschung fördern. »Wilhelm Tietjen Stiftung für Fertilisation« heißt die Firma deshalb, die keine wirkliche Stiftung ist. Neonazi-Anwalt Rieger verfügt über das Geld, und so genau weiß niemand, wieviel es ist. 3,4 Millionen Euro soll er für das Hotel geboten haben.
Die jüdische Gemeinde der Stadt ist beunruhigt. Seit einigen Wochen trägt Pedro Becerra einen gelben Button am Revers: »Keine Nazis in Delmenhorst«. Bisher hat der Gemeindevorsitzende keine Demonstration ausgelassen, und auch andere Männer und Frauen aus der Gemeinde sind mit auf die Straße gegangen. So wie Sofia Rubinstein. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie an einem Protestmarsch teilgenommen, erzählt sie. Demonstration – das kannte sie früher anders. »In Rußland war das Pflicht am 1. Mai und am 7. November, den kommunistischen Feiertagen.« 1995 kam sie mit ihrer fünfjährigen Tochter nach Bremen. »Ich kannte Nazis bisher nur aus Büchern und aus dem Fernsehen. Eigentlich hatte ich gedacht, hier in Deutschland kann so etwas nicht mehr passieren. Die Leute hätten das noch in Erinnerung und würden das nicht zulassen.« Jetzt wisse sie nicht mehr, was sie denken soll, sagt sie.
Die Jüdische Gemeinde Delmenhorst ist erst mit der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion entstanden. »99 Prozent der Mitglieder sind Einwanderer«, sagt Gemeindemitglied Vladimir Skulimovych. Und nur einer kommt nicht aus den Ländern der GUS, das ist Gemeindevorsitzender Becerra. Er kommt aus Chile. Skulimovych lacht: »Gott kennt alle Sprachen«.
Vladimir Skulimovych ist in Charkov aufgewachsen. 20 Jahre arbeitete er als Maschinenbauer in einer Aufzug-Firma, hier in Deutschland bekam er in seinem Beruf keine Anstellung, jetzt hat er einen sogenannten 1-Euro-Job in der jüdischen Gemeinde. Aus der kleinen Gemeindebibliothek bringt er das Buch über die Ge- schichte der Juden in Delmenhorst. 180 »Volljuden« hatten die Nazis einst gezählt. Als erste gerieten die »Ostjuden« ins Visier der Delmenhorster NSDAP. Einige von ihnen schafften es, nach Palästina auszuwandern. Von mehr als 70 Mitgliedern der alten jüdischen Gemeinde ist bekannt, daß sie in Vernichtungslagern umgekommen sind. Die Spuren der meisten anderen haben sich verloren. Von dieser Gemeinde ist vor allem der alte Friedhof geblieben. »Tote Juden und ihre Grabsteine haben die Nazis respektiert«, spottet Skulimovych. Schon 31 ihrer Mitglieder hat die neue jüdische Gemeinde dort in den vergangenen Jahren begraben.
Auch Sofia Rubinstein stammt aus einer alten jüdischen Familie, vier Generationen kann sie zurückverfolgen. »Leider sei sie nicht verwandt mit dem berühmten Pianisten Arthur Rubinstein, sagt sie und lacht. Aber sie liebt Musik und singt im Chor der Gemeinde. Mit 18 Jahren habe sie angefangen, sich für jüdisches Leben zu interessieren, betont die studierte Bibliothekarin. »Da wurde mir gesagt: Wenn du nicht aufhörst, in die Synagoge zu gehen, fliegst du von der Hochschule.« Sie wanderte aus – nach Delmenhorst.
In der jüdischen Gemeinde der kleinen norddeutschen Stadt wird heute viel Russisch gesprochen. »Weil es einfacher ist«, erklärt Sofia Rubinstein. Auch die Gebührenordnung am Kopierer ist auf Russisch verfaßt. In den Siddurim sind die hebräischen Gebetstexte mit kyrillischer Umschrift versehen. Doch, sagt Sofia Rubinstein, es gebe auch deutsche Gemeindemit- glieder – die Kinder. Mit ihrer Tochter hat die junge Frau, seitdem sie hier lebt, nur Deutsch gesprochen; inzwischen ist das Mädchen 17 – und spricht kaum Russisch.
Ein Teeny sitzt im Gemeindezentrum am Computer. Offenbar nutzt sie die Möglichkeit, dort im Internet zu surfen, privat, sagt sie. Nein, an einer Demonstration gegen den Hotel-Verkauf habe sie noch nicht teilgenommen.
Gemeindevorsitzender Pedro Becerra hört es nicht gern, wenn in seiner Gemeinde Russisch gesprochen wird. »Sie sollen sich integrieren«, erklärt er. Seitdem die Gemeinde vor neun Jahren gegründet wurde, gibt es Deutschkurse in Kooperation mit der Volkshochschule.
Becerra ist in diesen Wochen täglich unterwegs in Sachen Rieger und Hotel. »Die Erfahrung, daß es das wieder geben kann in Deutschland, ist schlimm«, sagt er. Das beunruhige die Gemeinde. Viele Mitglieder haben in der ehemaligen Sowjetunion Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. »Für die meisten ist dies einer der wesentlichen Gründe dafür, daß sie hier sind.«
Pedro Becerra hält für die Gemeinde den Kontakt zum Delmenhorster Bürgermeister. Der hat eine gute Nachricht vom Hotelverkauf: Es wird wieder verhandelt. »Verkäufer Mergel sollte langsam begreifen, was er tut«, sagt Becerra. »Wenn er das Hotel der Stiftung schenken will, dann unterstützt er die Nazis, und dann ist er für mich auch ein Nazi.« Da ist Beccera apodiktisch: »Jeder ehrenhafte Kaufmann kann sich aussuchen, mit wem er Geschäfte machen will, aber eben auch mit wem nicht.«