Auf dieses Bild fällt ihr Blick jeden Morgen – denn es hängt in ihrem Schlafzimmer. Es zeigt Helga Kaiser, wie sie von ihrem damaligen Büro im Jüdischen Gemeindekindergarten aus mit den Kindern spricht, die gerade vor dem Bürofenster am Spielen sind. Eltern hatten ihr das Gemälde zum Abschied geschenkt, als sie in den vorzeitigen Ruhestand ging. »Eine typische Szene ist das«, sagt die ehemalige Leiterin der Kita, Helga Kaiser, die am gestrigen Mittwoch 85 Jahre alt wurde.
Früher als eigentlich geplant musste sie schweren Herzens ihre Arbeit aufgeben – denn die damals 61-Jährige war psychisch erkrankt und litt an Angstneurosen, so dass sie nicht mehr belastbar war. Die Angstneurosen seien erst mit dem Alter in ihr Leben geschlichen, zu viel Schreckliches hat sie in ihrer Kindheit und Jugend erleben müssen. Dennoch meint sie: »Ich hatte nur Glück in meinem Leben.« Denn mit Hilfe und Unterstützung von Christen hätten sie und bis auf ihren Vater ihre ganze Familie die Schoa überlebt, mit viel Glück konnte sie erst als Helferin im Jüdischen Kindergarten anfangen und später ihr Diplom nachholen und so wurde der Weg zur Leitungsposition möglich. Heute gehe es ihr auch gut, weil sie seit einem Jahr im betreuten Wohnen des Seniorenzentrums der Jüdischen Gemeinde lebt, wo sie sich »gut behütet« fühle. Dort hat sie ihren 85. Geburtstag auch im kleinen Familienkreis gefeiert.
Als Kind musste sie mit ihrer Familie in ein sogenanntes Judenhaus in Charlottenburg ziehen, in dem sie mitbekam, wie andere Juden abgeholt worden. Ihre Familie war noch »geschützt«, da ihre Mutter zum Judentum konvertiert war und nun alles daransetzte, einen Ariernachweis zu erbringen, was ihr gelang. Aber sie hätten »gute Christen« in der Straße gehabt, die ihnen geholfen hätten. Mit viel Liebe sei sie groß geworden – nur einmal setzten sich ihre Eltern gegen ihren Willen durch: Sie erlaubten ihr nicht, als 16-Jährige ihre große Liebe zu heiraten. Zum Glück, so Helga Kaiser, denn der junge Mann wurde bald abgeholt. Ihre Eltern mussten beide Zwangsarbeit leisten. 1943 wurde ihr Vater erschlagen. 1947 starb ihre Mutter. »Sie hatte nach der Schoa keine Kraft mehr«, sagt Helga Kaiser.
Daraufhin zog sie mit ihrer Schwester an die Bayernallee, wo sie 58 Jahre zusammenlebten und die Familie immer größer wurde, da ihre Schwester heiratete und Nachwuchs bekam. 1952 konnte sie im Jüdischen Kindergarten anfangen. Am Anfang tobten immerhin schon 25 Kinder durch den vierten Stock an der Joachimstaler Straße, nach dem Umzug an die Del-brückstraße waren es 200. Die Arbeit war ihre »erfüllte Berufung«. Mittlerweile kommen ihre früheren Kinder »Tante Helga« häufig in ihrer Wohnung besuchen. »Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Spuren hinterlassen habe.« Christine Schmitt
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