von Elke Wittich
Daß Michail Fundaminski eines Tages von seinem Büro aus über die Dächer Stuttgarts schauen würde, hätte er sich früher niemals träumen lassen.
Aufgewachsen im damaligen Leningrad, fühlte der 55jährige sich »an die Stadt sehr gebunden« und sah wohl auch kaum eine Möglichkeit zur Emigration – bis 1989 Tochter Katja geboren wurde. »Meine Frau Marina und ich sind sehr spät Eltern geworden«, sagt er, »und dementsprechend haben wir uns über sie gefreut. Ich sah die Kleine damals an und wußte sofort, daß sie nicht in Rußland aufwachsen sollte. Die geistige Atmosphäre war so bedrückend, daß ich einfach nicht wollte, daß sie unter solchen Umständen leben muß.« Als Fundaminskis hörten, daß Deutschland Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die Einreiseerlaubnis erteilt, zögerten sie nicht lange und beantragten die Auswanderung.
Nach Schwaben kam die Familie »durch Zufall«, wie Michail sagt. »Als wir in St. Petersburg die Antragsformulare erhielten, stand dort die Frage, in welches Bundesland man wolle. Darüber hatten wir uns noch überhaupt keine Gedanken gemacht.« Michail und Marina entschieden sich für Bayern. »Ich wußte, daß München historisch gesehen ein Zentrum der russischen Emigration war. Außerdem kannte ich die Stadt als Standort von Radio Liberty.«
Bayern war jedoch damals noch nicht dem Immigrationsprogramm angeschlossen. »So erhielten wir die Erlaubnis, uns in Württemberg niederzulassen.« Bevor es so weit war, hieß es jedoch warten. Ein Jahr dauerte es, bis sie 1992 die Ausreiseerlaubnis erhielten. Über Deutschland wußten die Fundaminskis nur wenig. »Natürlich hatten wir viel deutsche Literatur gelesen, aber die würde nicht der Realität entsprechen, das ahnten wir schon vor der Abreise.«
Wie bereitet man einen Umzug an einen weitgehend unbekannten Ort vor? Nach welchen Kriterien entscheidet man, was im neuen Leben Platz haben soll? »Wir haben ziemlich dumm gepackt«, sagt der 55jährige und lacht. »Hauptsächlich nahmen wir russische Bücher mit, unsere Bibliothek der Klassiker. Die Hoffnung war, daß unsere damals zweijährige Tochter sie später lesen würde. Doch das hat nicht geklappt: Katja liest zwar gern, aber hauptsächlich deutsch.« Andere Dinge wie Möbel wurden verkauft, die Plattensammlung bekamen Freunde. »Manches vermisse ich heute sehr.«
Ist es nicht sehr schwer, plötzlich in einem fremden Land zu sein und sich dort schnell zurechtfinden zu müssen? »Luftschlösser haben wir keine gebaut«, erklärt Fundaminski. »Wir sind von vornherein sehr realistisch an die Sache herangegangen. Entsprechend waren wir darauf vorbereitet, daß wir große Probleme haben würden: mit der Sprache, mit der Integration, bei der Arbeitssuche.« Diese Einstellung habe sie vor vielen Enttäuschungen bewahrt, sagt Michail Fundaminski. Mit der ungewohnten Sprache kam das Ehepaar erstaunlich rasch zurecht. Sie hatten bereits in der Schule Deutsch gelernt, »doch davon war nicht viel hängengeblieben.« Das Ehepaar belegte sofort einen der angebotenen Deutschkurse, denn Michail Fundaminski wollte unbedingt in seinem erlernten Beruf weiterarbeiten. Nach dem Abitur hatte er in Leningrad angefangen, Medizin zu studieren, später war er in den Fachbereich Geschichte gewechselt. Nach der Promotion arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften. Seine damaligen Spezialgebiete waren Kulturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte sowie Buch- und Mediengeschichte. »In Deutschland, das stand für mich bald fest, würde ich meine Palette von Wissensgebieten erweitern müssen.«
In diesem Land im Wissenschaftsbetrieb unterzukommen, ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit unter Akademikern nicht einfach. Doch Fundaminski schaffte es. »Ich hatte Glück«, sagt er rückblickend, »denn ich stand zuvor schon im Briefwechsel mit einigen deutschen Kollegen. Die meisten konnten mir zwar nicht praktisch helfen, weil sie längst emeritiert waren, aber sie gaben mir viele Ratschläge, für die ich nach wie vor dankbar bin.« Der Historiker bot verschiedene Forschungsprojekte an und arbeitete an den Universitäten Stuttgart und Hannover sowie an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Mittlerweile ist er im Stuttgarter Stadtarchiv für den Aufbau eines jüdischen Archivs zuständig. Seit 2001 ist er im Vorstand der jüdischen Gemeinde der Stadt. Das Ehepaar hat jüdische und nichtjüdische Freunde und Bekannte. Und inzwischen versteht Fundaminski auch ziemlich gut Schwäbisch.
Das alles klingt nach einer gelungenen Integration. Hat er trotzdem manchmal Heimweh? »Lange habe ich einfach keine Zeit für Sehnsucht gehabt, denn zunächst galt es ja, hier anzukommen und beruflich Fuß zu fassen«, sagt Fundaminski nüchtern. »Heimweh setzte erst nach über einem Jahr ein. Aber meine erste Dienstreise nach St. Petersburg war eine Arznei gegen die Sehnsucht.«
Wenn Fundaminski noch einmal von vorn anfangen könnte, würde er dann auch wieder nach Deutschland auswandern? Er nickt. »Beruflich gibt es hier viel mehr Möglichkeiten als drüben, obwohl die Situation auf dem Arbeitsmarkt natürlich sehr schwierig ist.« Außerdem habe er von Anfang an seine jüdischen Wurzeln stärken wollen. »Jude zu sein, ist sehr wichtig für mich. In Deutschland gibt es dazu mehr Möglichkeiten als in Rußland.«
Hier im Südwesten der Bundesrepublik ist es nicht einfach, jüdisch zu leben. »Doch das ist für uns nicht neu«, sagt Michail Fundaminski. »In St. Petersburg existierte bis zum Jahr 1992 kein koscherer Laden. Im Stuttgarter Gemeindezentrum dagegen gibt es ein kleines Geschäft, in dem wir koschere Produkte anbieten. Und wer kann, fährt nach Straßburg«, sagt Fundaminski, das Angebot dort sei äußerst reichhaltig.
Über die russischen Zuwanderer existieren selbst unter deutschen Juden eine Menge Vorurteile. »Es stimmt einfach nicht, daß die Mehrzahl hier enttäuscht herumsitzt und von staatlicher Hilfe abhängig ist«, sagt Fundaminski verärgert. Allerdings seien leider die Erfolgreichen häufig nicht Gemeindemitglieder und kämen deshalb in der Statistik nicht vor, räumt er ein. »Bei Gesprächen mit Sozialamtsmitarbeitern höre ich aber immer wieder den Satz: ›Ihre Leute integrieren sich viel schneller als andere Einwanderergruppen.‹«
Haben die Fundaminskis niemals darüber nachgedacht, nach Israel auszuwandern? »Ich vertrage gesundheitlich keine Hitze«, sagt der Historiker. Eigentlich seien die USA ihr Wunschziel gewesen. »Aber damals war es nicht möglich, dorthin auszuwandern, und entsprechend verzweifelt waren wir.« Deutschland schien in dieser Situation eine gute Alternative für uns zu sein, »denn wir sind Europäer«. Natürlich habe er sich über Deutschland so seine Gedanken gemacht, räumt er ein. »Aber so viele Jahre nach dem Krieg lebt heute eine andere Generation hier.« Natürlich sei es das Land der Täter, aber auf der anderen Seite eben auch das Land, das die Zivilisation maßgeblich mitgeprägt hat. »Ich halte nichts davon, Bilder nur mit einer Farbe zu malen.«