Alan Dershowitz, Sohn orthodoxer Juden und einer der bekanntesten amerikanischen Anwälte, verteidigt seit einigen Wochen in einem Berufungsprozess in Den Haag den früheren Parlamentspräsidenten der bosnischen Serben, Momcilo Krajišnik. Dieser war vor zwei Jahren vom UNO-Kriegsverbrechertribunal zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Dershowitz glaubt, Krajišnik habe nur repräsentative Aufgaben erfüllt. Um das zu belegen, hat er das Gericht gebeten, den Ex-Serbenführer Radovan Karadžic als Entlastungszeugen anzuhören.
Herr Dershowitz, warum verteidigen Sie Kriegsverbrecher?
dershowitz: Ich verteidige nicht Kriegsverbrecher, sondern Menschen, die beschuldigt werden, Kriegsverbrecher gewesen zu sein. Sie unterstellen, dass Krajišnik ein Kriegsverbrecher ist. Doch das glaube ich nicht.
Würden Sie auch den ehemaligen Serbenführer Radovan Karadžic verteidigen, wenn er Sie fragen würde?
dershowitz: Ich müsste den Fall untersuchen und mir die Zeugenaussagen ansehen. Ich akzeptiere die Anschuldigungen der Anklage und ihre Kritik nicht. Für mich gilt grundsätzlich erst einmal die Unschuldsvermutung. Dann schaue ich mir selbst die Fakten an und komme zu einem eigenen Schluss. Sie könnten mich ebenso gut auch fragen, ob ich Israels früheren Premierminister Ariel Scharon verteidigen würde oder US-Präsident George W. Bush. Auch ihnen ist vorgeworfen worden, Kriegsverbrecher zu sein. Aber ich akzeptiere nicht, dass jemand so bezeichnet wird, solange das nicht bewiesen ist.
Auch nicht, wenn es sich um den mutmaßlichen ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk handelt, den die USA an Deutschland ausliefern möchten?
dershowitz: Ich habe den jüdischen Anwalt bewundert, der ihn vor Jahren bei seinem Prozess in Israel verteidigt hat. Ich glaube, John Demjanjuk war ein Kriegsverbrecher – ja, das glaube ich. Aber ich würde ihn verteidigen. Unser Rechtssystem fordert, dass jeder Angeklagte einen juristischen Beistand bekommt. Wie kann ich meinen Studenten predigen, dass jeder Angeklagte verteidigt werden muss, wenn ich nicht selbst bereit bin, Teil dieses Systems zu sein? Wenn mich das Gericht benennen würde, dann würde ich Demjanjuk verteidigen.
Hätten Sie auch Hitler verteidigt?
dershowitz: Wenn er mich während des Krieges gefragt hätte, ja – um so nah an ihn heranzukommen, dass ich ihn, ohne auch nur einen Moment zu zögern, mit meinen bloßen Händen hätte umbringen können. Ich hätte nicht als Anwalt gehandelt, sondern als Mensch, der das Richtige tut. Wenn ich aber in den 90er-Jahren gefragt worden wäre, ob ich einen alten Mann verteidigen würde, der im brasilianischen Urwald gefunden wurde, dann hätte ich ebenfalls ja gesagt. Das wäre hart, aber wenn dies die einzige Möglichkeit gewesen wäre, Hitler vor ein Gericht zu bringen, dann hätte ich mich bereit erklärt, ihn zu verteidigen. Denn wenn niemand eingewilligt hätte, ihn zu verteidigen, dann hätte man ihm keinen Prozess machen können, und er wäre freigekommen.
Ich denke, es ist wichtiger, Menschen vor Gericht zu bringen, als dass sie ungestraft davonkommen, nur weil niemand sie verteidigen möchte, wie es bei vielen Naziverbrechern der Fall gewesen ist.
Wie oft ist Ihnen Ihre Rolle als Verteidiger schon unangenehm gewesen?
dershowitz: Ich habe immer ein mulmiges Gefühl. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich jemanden verteidige, der schuldig sein könnte. Das ist äußerst kompliziert. Das ist ein Konflikt, den jeder moralische Mensch in dieser Situation haben würde. Aber ich denke, dass ich das Richtige tue.
Wie lässt sich diese Einstellung mit jüdischer Ethik vereinbaren?
dershowitz: Na, wer war denn der Erste, der schuldige Menschen verteidigte? Es war Abraham, er feilschte mit Gott um die Leute von Sodom: »Aschofet kol haaretz lo ja’aseh mischpat?«, fragt er ihn vorwurfsvoll – »Der Richter der ganzen Erde übt nicht Gerechtigkeit?« Abraham benutzt eines der heftigsten Wörter überhaupt: Es wäre »chalila«, entweihend, unkoscher, sagt er, wenn Gott die Unschuldigen zusammen mit den Schuldigen hinwegfegen würde. Ich denke, ich handele sehr wohl im Sinne der jüdischen Tradition, wenn ich Menschen verteidige, die wegen der übelsten Verbrechen angeklagt werden. Und je schlimmer die Anschuldigung, desto nötiger die Verteidigung.
Was aber ist mit Menschen, die noch nicht aufgehört haben, Böses zu tun?
dershowitz: Radovan Karadžic rief mich einmal an, noch in der Zeit, als in Bosnien Verbrechen begangen wurden. Ich sagte ihm damals, und ich habe das zu vielen anderen gesagt, dass ich sie nicht vertrete, solange sie Straftaten begehen. Ich verteidige niemanden während seiner kriminellen Karriere! Ich verteidige Menschen nur auf der Grundlage dessen, was sie in der Vergangenheit getan haben, und nicht, um sie dabei zu unterstützen, ihre Taten in Zukunft fortzusetzen. Das sind meine Regeln.
Welche Vorstellung von Gerechtigkeit haben Sie?
dershowitz: Mein Bar-Mizwa-Abschnitt war »Schoftim«. Es heißt da: »Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen.« Das ist jetzt 57 Jahre her. Seitdem denke ich darüber nach, warum die Tora das Wort »Gerechtigkeit« wiederholt. Einige der traditionellen Interpretationen sagen, dass man keine gerechten Zwecke erreichen kann, wenn die Wege nicht gerecht sind. Die Gerechtigkeit ist ein Prozess: Der Verlauf eines Gerichtsverfahrens ist genauso wichtig wie sein Ende. Zum Beispiel sagt die Tora: Man braucht zwei oder drei Zeugen, um jemanden zum Tode zu verurteilen. Das heißt, es kann passieren, dass schuldige Menschen freigesprochen werden. Wenn nur ein Zeuge sieht, wie jemand eine Straftat verübt, dann reicht das nicht. Die jüdische Ethik hat den Gerichtsprozess als solchen immer sehr hochgehalten. Einen Rechtsfall zu Ende zu bringen, ist nicht genug, es muss auch mit rechten Dingen zugehen. Dazu braucht man Rechtsmittel. Und eines dieser Rechtsmittel ist, dass der Angeklagte einen Verteidiger hat. Ich glaube, dass ich sehr stark innerhalb der jüdischen Tradition von Recht und Ethik agiere.
Sie haben auch einen großen Namen als Verteidiger Israels. Schadet es da nicht dem Ansehen des Landes, wenn Sie so stark als Verteidiger der »bösen Buben« dieser Welt hervortreten?
dershowitz: Ich verteidige Israel nicht juristisch, sondern politisch und moralisch. Ich verteidige Israel auf eine Art, wie ich niemals einen Schuldigen verteidigt habe – nicht mal einen Unschuldigen. Ich schreibe Bücher über Israel, ich unterstütze Israel, weil ich glaube, dass es im Recht ist. Ich kritisiere es auch, wenn ich denke, dass es Fehler macht. Zum Beispiel habe ich Israel für die Verwendung von Streubomben im Libanonkrieg kritisiert. Dass ich Israel verteidige, hat nichts damit zu tun, dass ich von Berufs wegen Verbrecher verteidige. Natürlich kann es passieren, dass Feinde Israels da eine Verbindung herstellen. Aber ich kann doch nicht damit aufhören, nur weil manche Leute falsche Anschuldigungen erheben.
Das Gespräch führte Tobias Kühn.