von Matilda Jordanova-Duda
»Es heißt, man fände Wahrheit nicht auf Erden …«, hebt die Mädchenstimme an. Alina Demikovskaja trägt aus dem Monolog Salieris in Puschkins Kleine Tragödien vor. Die Zehntklässlerin auf der Theaterbühne des Kulturzentrums Köln-Ehrenfeld ist eine ungewöhnliche Besetzung für die Rolle des alternden Komponisten. »Mach keine so großen Pausen, fang schneller an!«, ruft Vladi- mir Vainberg der jungen Frau zu. Und an ihre Mitspielerin gewandt: »Was könnte der Kammerdiener tun, während der Komponist am Flügel sitzt?« – »Die Notenblätter einsammeln?«, schlägt Christina Schkelnik vor. »Ein Getränk holen?« Ihr ist die stumme, undankbare Rolle des Dieners zugefal- len. Beide Gymnasiastinnen üben zweimal die Woche mit sechs weiteren russischsprachigen Mädchen und Jungen unter Vainbergs Regie. Im Sommer soll Premiere sein.
Alina, Christina und die anderen Mitglieder der Truppe sind in Deutschland geboren. Ihre Muttersprache beherrschen sie nicht perfekt, russische Klassiker wie Puschkin kennen sie kaum. Vladimir Vainberg, Lehrer für russische Literatur aus Riga, will den Jugendlichen die Kultur der Heimat ihrer Eltern näher bringen. Im schwarzen Cordsakko und mit dunklem, leicht angegrautem Haar sieht der 37-Jährige ein bisschen wie ein Künstler aus.
Vladimir Vainberg kam 1998 als sogenannter Kontingentflüchtling aus Lettland. Dort sah er langfristig keine Zukunft für sich: Die baltische Republik verweigerte nach der erlangten Unabhängigkeit allen Nicht-Letten die Staatsbürgerschaft. Wenn auch in Riga geboren und mit der lettischen Sprache, Geschichte und Kultur vertraut, war Vainberg bis vor kurzem staatenlos. Seit wenigen Monaten hat er einen deutschen Pass.
Als blutjunger Literaturstudent habe er angefangen, sich für die jüdische Identität zu interessieren, erinnert sich Vainberg. Das war Ende der 80er Jahre, als die Sowjetunion zerfiel und Nationalität wieder eine wichtige Rolle spielte. Er wollte mehr über die jüdischen Schriftsteller und Maler, über den Sinn hinter den Bräuchen und Feiertagen erfahren. Aber er betrachte sich trotzdem nicht ausschließlich als Jude, sagt er: Die russische, später auch die deutsche Kultur interessierten ihn nicht weniger. Obwohl Mitglied der Kölner Synagogengemeinde, sei er nicht besonders re- ligiös. Und bei seiner Arbeit sei es egal, woher jemand stamme: Gerade dies mache den Reiz aus. »Sehen Sie, das eine Mädchen hier in der Theatertruppe kommt aus Kasachstan, das andere aus Petersburg, das dritte aus Lwow in der Ukraine. Wir sammeln alle diese Mentalitäten und machen daraus etwas Neues.«
An einer Schule arbeiten darf Vainberg hier in Deutschland nicht. Wie die meisten seiner sowjetischen Kollegen hat er nur ein Fach studiert, erforderlich sind hierzulande mindestens zwei. Einwanderer müssen also erneut an die Universität und anschließend ihr Referendariat absolvieren. Deshalb gibt es an den Schulen außer für den – seltenen – Unterricht in der Muttersprache kaum Lehrer aus der ehemaligen Sowjetunion, obwohl an mancher Schule der Migrantenanteil 80 Prozent übersteigt.
Vainbergs zahlreiche Bewerbungen schlugen fehl. Ein Praktikum an einem Kölner Gymnasium zeigte ihm, dass es erhebliche Unterschiede in den Unterrichtsmethoden gibt: hier mehr Textanalyse, dort mehr faktisches Wissen. Er habe es trotzdem sehr genossen, erinnert er sich.
Die ersten anderthalb Jahre nach der Einreise saß er im Deutschkurs. Danach war er 32 Jahre alt – zu alt, um wieder Student zu sein, glaubte er. Denn sein Lehrer-Diplom hatte er bereits mit 21 in der Tasche, wie es in der ehemaligen Sowjetunion üblich war. Danach fing er sofort an zu arbeiten. Da war Vainberg schon verheiratet und hatte einen Sohn.
Inzwischen hat er gelernt, dass die Lebensplanung in Deutschland etwas anders verläuft: Die Mehrzahl der Akademiker hat mit Anfang 30 weder Familie noch eine nennenswerte Berufserfahrung. Immer wieder fragte sich Vainberg, ob die Entscheidung gegen ein weiteres Studium damals richtig war. »Wahrscheinlich war es ein Fehler«, sagt er. Einer seiner Freunde, ein Arzt, habe die ganze mehrjährige Ochsentour durchgemacht, die für die Anerkennung mancher ausländischer Abschlüsse vorgesehen ist. Gerade habe der Freund seine eigene Praxis eröffnet.
Im Nachhinein ist man immer klüger. Damals aber hatte Vladimir Vainberg sich entschlossen, den Beruf an den Nagel zu hängen. Seine Frau, früher auch Pädagogin, sattelte auf Physiotherapeutin um und fand eine feste Anstellung. Vainberg ließ sich zum Programmierer für Multimedia ausbilden. Ein Job mit Zukunft, hieß es. Einer, der die schöngeistigen Neigungen mit der modernen Technik kompatibel macht, hoffte er. Die Hoffnung trügte. Er beendete zwar die Ausbildung, konnte sich aber mit der Arbeit nicht anfreunden.
Irgendwann vor etwa vier Jahren gab es eine Zeit, wo er nicht weiter wusste, erinnert er sich. Der Zufall wollte es, dass er dann auf das Integrationszentrum »Phönix« traf, eine Selbsthilfeorganisation für russischsprachige Einwanderer. Hier wurden seine pädagogischen Fähigkeiten plötzlich gebraucht: wenn nicht als Lehrer, so doch als Sozialarbeiter. Der erste Einsatz dürfte für den kultivierten Intellektuellen hart gewesen sein. Mit anderen eingewanderten Kollegen ging er als »Streetworker« in das Plattenbauviertel Köln-Chorweiler, das den Ruf eines »sozialen Brennpunkts« hat. Sie sollten mit jugendlichen Migranten in reden und ihnen helfen, ihre Probleme zu lösen. Heute betreut Vainberg im Auftrag des Jugendamts einen 17-jährigen Jugendlichen, der massive Schwierigkeiten in der Schule hat und dessen alleinerziehende Mutter mit ihm nicht fertig wird – mehr darf er nicht verraten. Mit dem Schützling macht er Hausaufgaben, organisiert Praktika. Ein »Licht am Ende des Tunnels« sei immerhin schon zu sehen.
Welch ein Unterschied zu den Theaterleuten: Eine Gruppe von Gymnasiasten inszenierte in der letzten Saison Shakespeare in vier Sprachen. Wenn sie nicht proben, spielen sie Fußball oder tanzen Ballett. Und selbst wenn sie nicht so eifrig bei der Sache seien wie seine ehemaligen Schüler: Die Theatertruppe sei doch etwas fürs Herz. Genauso wie die Radiowerkstatt im Bürgerfunk, mit der Vainberg und Team einmal monatlich auf Sendung gehen. Daneben hilft er bei der Betreuung russischsprachiger Drogensüchtiger in einer Praxis. Als Freiberufler hangelt er sich von Projekt zu Projekt. Das bringt eine gewisse Unsicherheit mit sich, aber auch die Freiheit, das zu tun, was ihn wirklich interessiert.
Zur Zeit stellt Vladimir Vainberg eine Datenbank mit Lehrern aus der ehemaligen Sowjetunion zusammen. Um die 70 gebe es allein in Köln, sagt er. Viele lebten von Hartz IV, einige suchten sich irgendwelche Jobs, oft wie er selbst in der »benachbarten« Sozialpädagogik. Aber die meisten wollten zurück ins Klassenzimmer, erzählt er. Jetzt gibt es dafür eine Chance: Nachmittagsbetreuung an den Ganztagsschulen.
»Unsere Lehrer haben durchaus Erfahrung in diesem Bereich«, sagt Vainberg. In seiner alten Heimat gab es nach dem letzten Gongschlag zahlreiche Arbeitsgemeinschaften. Da wurde Schach, Musik oder Theater gespielt, da wurden Flugzeuge gebaut oder knifflige Mathematikaufgaben gelöst. Die Lehrer an seiner früheren Schule in Riga fingen morgens um acht Uhr an und gingen erst gegen 18 oder 19 Uhr nach Hause, erinnert er sich wehmütig. Zwar hing deswegen der Haussegen oft schief, aber die Schule war so etwas wie eine Ersatzfamilie. Hier in Deutschland seien die Lehrer mehr auf Distanz, findet Vainberg. Schwingt da ein bisschen Nostalgie mit? Ab und zu fragt sich Vainberg tatsächlich, ob er nicht alles daran setzen sollte, wieder unterrichten zu dürfen. Andererseits werden ihm die Ideen für Projekte wohl nicht so schnell ausgehen. Es gebe so viele Jugendliche mit Problemen. Und alle Leute, mit denen er darüber sprach, hätten ihn ermutigt: »Du musst helfen.« – »Und ich habe angefangen.«