Der interreligiöse Dialog ist mir in die Wiege gelegt. Ich komme aus Haifa, das ist eine multikulturelle Stadt. Ich habe da viel mit muslimischen Leuten gearbeitet. Mit etlichen habe ich heute noch Kontakt, obwohl ich schon 30 Jahre in Deutschland lebe. Das Gespräch zwischen den Religionen ist für mich so etwas wie ein Lebensthema.
Am Sonntag habe ich hier in Freiburg »Talmudschule« gemacht, da lese ich mit Christen die Bibel. Mit der Tora hatten wir begonnen, das ist jetzt schon drei oder vier Jahre her. Ich bin in der rabbinischen Auslegung zu Hause, aber ich mache das feministisch. Ich studiere nebenher Feministische Theologie. Dienstags unterrichte ich an der Evangelischen Fachhochschule. Dort sind Judentum und Islam ein Semester lang Pflichtfach.
Dienstag war ich wieder im Gefängnis. Ich bin Seelsorgerin für jüdische Häftlinge. Für die Israelis ist es die einzige Gelegenheit, einmal Hebräisch zu sprechen. Ich bringen ihnen ein bisschen Licht von draußen. Viele bekommen ja nie Besuch. Manchmal sage ich zu ihnen: »Ich mach mich hübsch für euch«. Meine Besuche geben ihnen Hoffnung und Mut. Sie können da auch mal ein bisschen Dampf ablassen. Das mache ich schon seit 15 Jahren. Viele »Ehemalige« halten Kontakt zu mir, wenn sie draußen sind.
Gemeinsam mit einem Pfarrer biete ich auch einen Kreis für Langzeitgefangene aller Religionen an. Das ist so eine Art Freizeitgruppe »Gott und die Welt«. In Zusammenarbeit mit der evangelischen Erwachsenenbildung bin ich an mehreren Gesprächsreihen zum Thema »Christen und Juden« beteiligt. Am Dienstag ging es zum Beispiel um Abraham. Ein Pfarrer sprach aus christlicher Sicht, ich aus jüdischer Perspektive.
Der Donnerstag gehört dem Hebräischunterricht in Emmendingen: Vormittags unterrichte ich Fortgeschrittene, um 18 Uhr die Anfänger. Wir haben in Emmendingen ein jüdisches Lehrhaus gegründet. Das ist nicht nur für Juden, sondern es steht allen offen. Zweimal im Monat habe ich ehrenamtlich Dienst im jüdischen Museum in Emmendingen. Es wird vom Verein für jüdische Geschichte und Kultur getragen. Auch da arbeiten Christen und Juden zusammen.
Um interreligiösen Dialog geht es auch im jüdisch-christlich-muslimisch-feministischen Verein, in dem ich Mitglied bin. Diese Verschiedenheit der Religionen und Kulturen gibt unserem Leben doch eine große Bereicherung! Als ich nach Deutschland kam, habe
ich mich intensiv mit dem Christentum beschäftigt. Und ich habe viel dazugelernt. Ich habe mich gefragt: Wie ist das bei uns im Judentum? Und das hat mich dazu gebracht, dass ich bestimmte Sachen, die ich vorher gewohnheitsmäßig tat, jetzt bewusster mache. Man könnte sagen, es hat meinen Glauben und mein Verhältnis zur jüdischen Tradition gefestigt. Das gibt mir Kraft. Ich habe gelernt, auch in der schlimmsten Situation ein Licht zu sehen. Meine Mutter sagt immer: »Man weiß nicht, wozu es gut war!« Dieser Spruch begleitet mich in meinem Leben. Auch wenn es jetzt schlecht ist: Vielleicht hat es doch etwas Gutes.
Es war nicht leicht für meine Eltern, als ich nach Deutschland ging. Ich war mehrere Monate lang in Europa, habe mir alles angeschaut. Als ich nach Hause kam, sagte ich zu meinen Eltern: »Wisst ihr, ich habe das Gefühl gehabt, ich muss dort bleiben«. Und dann habe ich mich entschlossen, nach Deutschland zu gehen. Meinen Eltern hat das nicht gefallen. Wir haben dann eine Landkarte auf den Tisch gelegt, und ich habe die Augen zugemacht und mit dem Finger auf die Karte gezeigt: auf Freiburg im Schwarzwald. Auch wenn sie sehr offen sind, war es nicht einfach für meine Eltern. Sie sind Holocaust-Überlebende aus Osteuropa. Aber sie erkennen jetzt auch, dass es wichtig ist, was ich mache. Und sie freuen sich, dass meine Arbeit hier Anerkennung findet.
Als ich kam, konnte ich gerade mal zehn Sätze Deutsch. Nach drei Tagen hatte ich eine Wohnung, nach fünf Tagen Arbeit in einer Optikfirma, später als Datentypistin. Dann habe ich eine Ausbildung zur Physiotherapeutin gemacht, später zur Krankenschwester. Aber in der ganzen Zeit habe ich mich in der Freiburger Gemeinde engagiert, lange Zeit auch im erweiterten Vorstand. Die ersten 15 Jahre war ich hier Kindergärtnerin, Hebräischlehrerin, Köchin, Mädchen für alles.
Mit den Jahren kam es dazu, dass ich das Judentum weitergeben wollte, auch an Nichtjuden. So fing ich an, Vorträge zu halten, Workshops zu geben. Es ist mir wichtig, Vorurteile abzubauen. Oft kommen die gleichen Leute, aber sie sind Multiplikatoren – auch die Studenten an der Evangelischen Fachhochschule, die eines Tages als Diakone oder Religionslehrer arbeiten werden. Die Botschaft ist, dass man normal miteinander leben und voneinander lernen kann.
Später habe ich eine Zusatzausbildung zur OP-Schwester gemacht, war dann Stationsleiterin. Bis vor fünf Jahren noch. Seitdem habe ich diesen Lehrauftrag und bin deshalb keine OP-Schwester mehr. Ich bin jetzt 57 Jahre alt, und wenn mich heute jemand fragt: »Du warst doch Krankenschwester, wieso jetzt Religion?«, dann sage ich: »Das ist Berufung. Das ging nicht direkt, das war ein langer Weg.« Im Krankenhaus habe ich mit den unterschiedlichsten Menschen zusammengearbeitet. Ich denke, das war alles eine allmähliche Vorbereitung auf das, was ich jetzt mache. Wenn ich heute auf diesen Weg zurückblicke, dann finde ich, es ist ein schöner Weg. Meine Schwester macht etwas ganz anderes. Sie ist Ballett-Tänzerin und hat jetzt eine eigene Ballettschule. Von uns beiden bin ich die religiösere. Ihre Kinder haben auch ein bisschen vom Judentum mitgekriegt, durch unsere Eltern. Mein Vater hat mein religiöses Interesse sehr unterstützt. Manchmal wundere ich mich selbst darüber, woher ich bestimmte Sachen weiß – vermutlich habe ich sie mit der Muttermilch bekommen. Ja, ich habe sehr kluge Eltern. Natürlich lese ich auch viel – aber dieses Fundament ist wichtig.
Auf ein gutes Fundament kann man aufbauen. Es hat keiner gedacht, dass ich das einmal brauchen würde. Als religiöser Mensch sage ich: Das hat Gott so gewollt. Ich war in meinem kurzen Leben auch schon sehr krank. Und habe gedacht, jetzt geht es zu Ende. Ich habe mit dem Rabbiner gesprochen und bin sehr
oft in die Synagoge gegangen, öfter noch als sonst. Das Gebet hat mir Kraft gegeben. Heute kann ich sagen, ich bin gesund. Ins Krankenhaus gehe ich dennoch regelmäßig, ich leite eine Selbsthilfegruppe »Frauen nach Krebs«. Und ich besuche Frauen, die jetzt die Diagnose Krebs bekommen haben. Ich bin überzeugt, dass religiöse Menschen viel Kraft bekommen. Man kann mit Gott auch hadern, und das tue ich manchmal. Aber ich habe auch gelernt, Danke zu sagen, selbst für die kleinen Dinge. Nach so einem Tag wie heute, wenn es gut gelaufen ist und ich das Gefühl habe, die richtigen Worte gefunden zu haben, dann sage ich ihm Dankeschön für diesen schönen Abend. Dankeschön, dass ich das geschafft habe.
Aufgezeichnet von Thomas Lachenmaier