(...) Heinrich Heine hat mich mein ganzes geistiges Dasein lang begleitet, vom ersten Zeitpunkt meiner Reflexionsfähigkeit an, und insofern sind dieser Abend und seine Auszeichnung für den Laudandus so etwas wie ein Lebenshöhepunkt Und das zumal in dem Ort seiner Geburt, von dem Heine, inzwischen längst Exilant, einmal sagte: »Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zumute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehen. Wenn ich sage: nach Hause gehen, so meine ich die Bolker Straße, das Haus, worin ich geboren bin.«
Das war, man weiß es nicht so ganz genau, am 13. Dezember 1797, als Kind des Kaufmanns Samson Heine und seiner Frau Elisabeth, geborene van Geldern, beide jüdischer Abstammung – sie bleibt das Brandmal des genialen Sohnes. (...) Ja, er (Heine, Anm. d. R.) hat sich taufen lassen, aber es hat ihm nichts genützt – er ist Jude geblieben, mit Haut und Haaren, und für die anderen sowieso. Ich bin ihm früh begegnet, und das in Gestalt einer Statue im Hamburger Stadtpark, ich an der Hand des Vaters, so als Sechs- oder Siebenjähriger: Vor mir eine zierliche, fast graziöse Gestalt, aus Metall und in nachdenklicher Pose auf einem Podest, eine unvergessene Silhouette noch heute, an die 80 Jahre später. Eines Tages aber war der vertraute Anblick verschwunden, der Platz bis auf den Sockel leer. Das war so um 1935 herum, da war ich gerade zwölf geworden. (...) Jahre später dann, in einer Zeit tiefster Bedrohung und Ungewissheit, ob wir das Ende des Dritten Reiches lebend erreichen würden, entdeckte ich Werke des Geächteten im Bücherschrank der Eltern – mit den Nordsee-Gedichten I bis III und der Harzreise als Debüt. Da ist die jugendliche Seele nur so dahingeschmolzen vor dem Wohllaut, aber auch alarmiert durch die Hintergründigkeiten dieser eben nicht nur »Reiseliteratur«. Da stellte sich bald Verwandtes ein, Verbundenheit mit dem Kritiker, von innen her und langsam begreifend. Hängen geblieben ist mir die Bemerkung eines Lehrers auf dem Johanneum in Hamburg, kurz bevor ich das Gymnasium auf Befehl der Gestapo 1940 verlassen musste: »Da gab es einen, Heinrich Heine, der mit dem letzten Satz immer alles umstieß, was er davor aufgebaut hatte.« Das war durchaus ablehnend gemeint, aber doch für die seinerzeitigen Verhältnisse ungewöhnlich genug, dass der Name überhaupt öffentlich ausgesprochen worden war. Hatten die Herrscher des »Tausendjährigen Reiches« von zwölfjähriger Existenz doch die Stirn gehabt, unter das Gedicht von der Loreley die Lüge »Autor unbekannt« zu setzen. (...)
Ich habe selten Regierungstreues oder -frommes verfasst, dafür aber manches gegen den Strich Gebürstetes, Publikationen, die etwas auslösten wie meine Fernsehsendung Heia Safari. Die Legende von der deutschen Kolonial-Legende in Afrika (1966); oder eine andere über den Völkermord an den Armeniern 1915/16 im türkisch-osmanischen Reich (1986); oder wie mein Brief an Kanzler Kohl während des rassistischen Flächenbrandes von 1992/ 93: »Wenn der Staat es nicht vermag, uns zu schützen, werden Juden ihren Selbstschutz in die eigenen Hände nehmen.« Oder wie, dies zuletzt, der Hinweis auf die Gefahren einer schleichenden Islamisierung unseres Landes, und das mit einer Resonanz, die bestätigt, dass hier ein innen- und außenpolitisches Problem von bundesweiter Dimension verdrängt und geleugnet worden ist. Jetzt wird darüber gesprochen – kontrovers, und das ist allemal besser, als gar nicht.
Der Sinn dieser unvollständigen Aufzählung: Ich habe, mit Gegen- und mit Rückenwind, immer alles sagen und schreiben können, was ich sagen und schreiben wollte. Das heißt: Der größte Reichtum meines Lebens besteht in der Unzensiertheit meines Werkes, seiner Freiheit und seiner unbeschädigten Ausführung. Wenn ich deshalb von einem erfüllten Leben sprechen kann, dann habe ich das der demokratischen Republik zu verdanken. Trotz all seinen Mängeln, Fehlern und Schwächen – der demokratische Verfassungsstaat nach westlichem Vorbild ist das kleinste aller Staatsübel in der Menschheitsgeschichte.
Und ich bin sicher, Heinrich Heine würde ihn, mit seinen Vergleichsmöglichkeiten, begrüßen, auch wenn er immer noch die modernen Spiegelbilder seiner alten Feinde ausmachen könnte. Was er wollte, aber nicht hatte – Freiheit des Wortes, angstfreie Rede, angstfreie Schrift – das habe ich, und unsere Feierstunde bestätigt es. Ich werde diesen Zustand, wohl wissend, dass er ständig bedroht ist, nicht müde zu preisen und zu verteidigen gegen jeden und alle, die ihn beschädigen oder aufheben wollen, kämen sie nun von draußen oder von drinnen. (...)
Ralph Giordano