David Krugmann

»Ich habe kreative Einsamkeit gefunden«

von Thomas Nagel

Es gibt viele Möglichkeiten, ein Leben auf den Punkt zu bringen. Der jüdische Künstler David Krugmann teilt seines in drei Phasen ein: die Jugend als Volleyballer in der ersten russischen Liga, die Zeit als künstlerischer Dissident und das »glückliche Leben« als freier Künstler. Er sagt: »Ich lebe drei Leben.« Doch das, was war, ist nicht nur Geschichte, sondern es kommt immer wieder zurück. Manchmal passiert das ganz harmlos. Krugmann schaut bei einem Beachvolleyball-Turnier in Fürth zu. Der Ball fliegt ins Publikum, Krugmann schmettert ihn gekonnt zurück. Die Spielerinnen auf dem Feld klatschen Beifall. Krugmanns Augen glänzen, wenn er das erzählt. »Ich dachte, wo sind meine jungen Jahre.« Dann fällt ihm auch das »Andenken« an seine Zeit als Spitzen-Volleyballer in den 50er- und 60er-Jahren in Russland ein: »Meine Knochen sind kaputt. Ich bin Stammgast beim Orthopäden.« Ein bisschen Melancholie eines ehemaligen Leistungssportlers, der selbst mit 71 Jahren gerne noch könnte, wie er will. Vielleicht.
Aber Krugmann hat damals auch eine wichtige Erfahrung gemacht. Er hat gekämpft – einen aussichtslosen Kampf eigentlich. Mit knapp über 1,70 Meter Körpergröße war er alles andere als prädestiniert für seinen Sport, aber er schaffte es doch in die erste Liga. Der kleine, drahtige Mann hat gelernt, dass er mit Beharrlichkeit gewinnen konnte. Über seinen späteren Kampf als Künstler für eine freie Kunst in der Sowjetunion sagt er: »Ich war Sportler. Ich wollte kämpfen und gewinnen.« Vielleicht hat ihn auch diese Erfahrung ermutigt, fast 18 Jahre lang sein Familienleben der Kunst zu opfern.
»Die Angst«, sagt Krugmann, »kommt erst jetzt.« Träume verfolgen ihn, aus denen er schweißgebadet hochschreckt. Die Dinge, die er träumt, hat er tatsächlich erlebt, genauer gesagt, überlebt: Zusammen mit einem Helfer übernachtet er in einem Bauwagen am Ufer des Issikul-Sees in Kirgisien, wo er eine Skulptur bauen will. Plötzlich wacht er auf. Ihm ist schlecht vom dichten Rauch. Sein Helfer, »ein großer, starker Mann«, weicht in der Wassertonne einen Sack ein und stülpt ihn Krugmann über den Kopf. Dann tritt er die Tür ein, die von außen abgesperrt worden war. »Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich verbrannt«, sagt Krugmann.
Er wurde oft bedroht und verfolgt in Kirgisien, wohin er doch eigentlich 1968 geflüchtet war, weil er als Künstler nicht sozialistischen Realismus produzieren wollte. Für ihn war und ist das »Propagandakunst«. Während seines Studiums an der Muchina-Kunsthochschule zwischen 1963 und 1968 im damaligen Leningrad organisierte er sich mit Gleichgesinnten in einer »Nonkonformisten-Gruppe«. Der Preis für die Mitgliedschaft in dieser Gruppe, die für die freie Entwicklung neuer Kunstformen eintrat, war hoch. »Meine Freunde wurden bis Mitte der 70er-Jahre getötet oder rausgeschmissen«, bilanziert Krugmann.
Er selbst geht 1968 nach Kirgisien und lässt alles zurück. Seine Hoffnung: Im weit entfernten, islamisch geprägten mittelasiatischen Teil der Sowjetunion würde er aus dem Blickfeld von Kulturministerium und Geheimdienst verschwinden und in Ruhe seine künstlerischen Vorstellungen umsetzen können. Der Kämpfer in ihm lässt ihn Fremde und Einsamkeit ertragen: »Ich konnte keine Kompromisse machen, wollte mit meinen Ideen leben«, erklärt Krugmann. Er blieb auch, als seine Frau mit seiner Tochter nach einem Jahr wieder nach Leningrad zurückkehrte, weil sie das karge Leben in Kirgisien nicht ertrug.
In den nächsten 17 Jahren sieht Krugmann seine Familie nur, wenn er zweimal im Jahr für einen Monat nach Leningrad kommt. Die Hoffnung auf freie künstlerische Entfaltung ist dennoch schnell dahin. Der sowjetische Funktionärsapparat wacht auch nahe der chinesischen Grenze mit unvermindertem Argwohn über die Einhaltung der ästhetischen Doktrin. »Meine Art, Kunst zu machen, wurde zwar von der Bevölkerung akzeptiert. Die Politfunktionäre aber boykottierten und torpedierten meine Projekte von Anfang an«, berichtet Krugmann. Zettel mit Todesdrohungen und Pistolen, die ihm von KGB-Schergen auf die Brust gesetzt werden, sind nur der Anfang.
Was ihn letztendlich so lange in Kirgisien hält, ist die Schönheit des Landes: »Kirgisien ist bei allen Problemen einfach unglaublich schön. Die Berge, die Seen, die einfachen Menschen, die zum Teil noch als Hirtennomaden leben, waren für mich eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration.« Aber es ist auch der Kampf gegen die Windmühlen der Funktionärsclique, den er sofort aufgenommen hat. Es geht um seine Kunst.
Da ist die Geschichte vom 200 Quadratmeter großen begehbaren Brunnen, den er in den 70er-Jahren in der kirgisischen Hauptstadt Frunse, dem heutigen Bischkek, bauen wollte. Das Ministerium schickt Bulldozer, die das, was schon fertig ist, gleich wieder einreißen sollen. Krugmann stellt sich vor sein Werk und verhindert den Abriss. Dann kommt ein »Auto mit zwei starken Männern« und bringt ihn in die Psychiatrie. Die sechs Monate dort werden »die schlimmste Zeit« seines Lebens. Und auch sie verfolgt ihn bis heute in seinen Träumen. Weil er jemandem helfen wollte, wird Krugmann nackt auf ein Eisenbett mit einem Rost aus Metallfedern gebunden. »Du liegst auf dem Rücken und kannst nicht die kleinste Bewegung machen. Mit der Zeit bohren sich die Metallteile in die Haut. Die Schmerzen werden unerträglich. Nach Stunden schreist du nur noch vor Schmerz.«
Krugmann, der sonst völlig ruhig dasitzt, schwankt mit dem Oberkörper und wippt mit dem Fuß im Rhythmus seiner Sätze. Es fällt ihm nicht leicht, das zu erzählen. Nicht nur wegen der Vergangenheit, er hat Angst vor der nächsten Nacht: »Wenn ich davon erzähle, kommen nachts die Träume wieder.«
Ein Journalist sorgt schließlich dafür, dass Krugmann entlassen wird. Er kümmert sich um den gebrochenen Künstler und bewahrt ihn davor, dem Wodka zu verfallen. Schließlich erholt sich Krugmann und baut den Brunnen fertig. »Ich habe gewonnen«, sagt er heute. Jahre später wird sein Triumph vollkommen: Auf der Expo 2000 in Hannover findet er im kirgisischen Pavillon Postkarten mit seinem Brunnen als Motiv.
Trotzdem bleibt der Brunnen nur ein Teilerfolg. 1986 wird der Druck zu groß. Krugmann muss Kirgisien verlassen und kehrt zu seiner Frau nach Leningrad zurück. Dort herrscht inzwischen zwar Perestroika, aber die Armut ist groß. Während seine Frau als Chemie-Ingenieurin in der Filmindustrie arbeitet, beginnt Krugmann Bilder zu malen, die er für 400 Rubel, damals ungefähr 30 Mark, an Touristen verkauft. Dabei lernt er den Fürther Immobilienhändler Bernd Lindner kennen, der später eine Art Mäzen für ihn wird.
Im November 1994 beginnt David Krugmanns »glückliches Leben«. Im Rahmen der sogenannten Kontingentflüchtlingsregelung, die russischen Juden die Ausreise nach Deutschland ermöglicht, verlässt er zusammen mit Frau und Tochter Leningrad, das inzwischen wieder St. Petersburg heißt. Seitdem lebt er in Fürth als freischaffender Künstler. Krugmann kann zwar auch hier nicht von seiner Kunst leben, aber er ist zufrieden: »Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben keinen Hunger und genug Kleider. Geld ist nicht so wichtig.« Krugmann bekommt Arbeitslosengeld II. Atelierräume stellt ihm Bernd Lindner kostenlos zur Verfügung. Material bezieht er von verschiedenen Spendern. Und das Wichtigste: Er kann arbeiten, am liebsten jeden Tag, so lange bis er todmüde ins Bett fällt. Nebenbei engagiert er sich auch in der kleinen jüdischen Gemeinde in Fürth. Aber richtig religiös ist er nicht. »Ich bin als Atheist aufgewachsen. Ich gehe nur an Feiertagen und an Todestagen in die Synagoge«, bekennt Krugmann, »meine Religion sind meine Bilder.«
Deshalb arbeitet er jetzt wie besessen. Er will die Zeit nutzen und verlorene Zeit nachholen, als er hinter dem Eisernen Vorhang vom Kunstbetrieb der übrigen Welt abgeschlossen war. Er hat Bücher gelesen und Museen besucht. Aber vor allem will er die »kreative Einsamkeit«, die er hier gefunden hat, in Bilder umsetzen, »am besten 24 Stunden am Tag«. Dabei störe ihn oft seine »schwere Laune«. Er berichtet von der Sorge, dass seine Bilder noch nicht so »leicht« sind, wie er sie gerne hätte. Manchmal übermalt er ein Bild so oft, dass er das letztendliche Ergebnis nicht mehr hochheben kann. »Jetzt«, sagt Krugmann, »kämpfe ich nur noch gegen mich selbst.« Er lächelt.

Liebe Leserinnen und Leser,
mit diesem Porträt endet unsere Reihe über jüdische Zuwanderer. In der nächsten Ausgabe beginnen wir auf dieser Seite eine neue Serie.

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