von Benno Reicher
Es waren aufregende Wochen damals im April 1996, vor ziemlich genau elf Jahren. Die Eltern von Dimitri Artarov, beide etablierte Maschinenbau-Ingenieure in Odessa, hatten sich entschlossen, einen radikalen Neuanfang zu wagen. Nach dem Zu- sammenbruch der Sowjetunion war das Leben in der Ukraine schwieriger und in jeder Hinsicht unsicherer geworden. Juden konnten das auch am Antisemitismus spüren. Einen Vorteil jedoch hatten sie in dieser Situation, und die Artarovs nutzten ihn: Sie konnten das Land verlassen. Und weil damals schon ein alter Freund der Familie in Deutschland, in Münster, lebte, kam Dimitri Artarov mit seinem Bruder und seinen Eltern von der ukrainischen Millionenstadt Odessa ins westfälische Münster.
»Das war schwierig damals«, erzählt Dima, so nennen ihn seine Freunde. Er war noch bis zum letzten Tag in der Schule. Dann fuhren sie mit dem Bus nach Unna. »Drei oder vier Tage« dauerte die Reise, genau weiß es der junge Mann nicht mehr. In seiner Erinnerung kommt sie ihm endlos vor. Nach einigen Tagen im Durchgangslager Unna-Massen kamen sie zu den Freunden nach Münster. »Mein Bruder und ich nahmen uns Fahrräder und fuhren durch die Stadt. Münster ist eine richtige Fahrradstadt, so was gibt’s in der Ukraine nicht.«
Dima war 16, als sein bisheriges Leben sich gewaltig veränderte und er hier, in einer völlig neuen Welt, ein neues Leben anfangen musste. Deutsch sprach er damals noch nicht. In Odessa hätte er in zwei Jahren das Abitur gemacht, in Münster musste er nun auf eine Hauptschule gehen. Sein Unbehagen formuliert er zwar sehr vorsichtig, aber es ist klar, seine Welt war das nicht.
Seit seiner Kindheit spielt Dima Schach, im Club, auf Turnieren. »Es ist ein logisches Spiel«, sagt er, »man muss klar denken können, mehrere Züge im Voraus, und man muss seinen Gegner einschätzen können. Das hat auch mit Psyschologie zu tun.« Dima geht auch in Münster in einen Schachclub. Das ist eine Welt, die er kennt und die er zunächst auch ohne deutsche Sprache meistern kann. Der Neue fällt als guter Spieler auf. Der Jugendtrainer kümmert sich um ihn, setzt ihn auf Turnieren ein. »Bei einem Mannschaftswettbewerb haben wir sogar mal gewonnen, und ich bekam einen Anteil vom Gewinn, 200 Mark, das war damals viel Geld.« Im Schachclub trifft er Rafael Schwerdt, der ist heute noch sein bester Freund. Rafael, Schüler der katholischen Friedensschule, kann ein Gespräch mit seinem Schulleiter arrangieren, der den schüchternen, kaum deutsch sprechenden Zuwandererjungen an seine Schule holt.
Für Dima, den Gruppenmenschen, ein ausgesprochener Glücksfall. Neben Familie und Schachclub öffnet sich dem intelligenten jungen Mann eine neue Gemeinschaft, die ihn fordert und fördert. Hier lernt der schwarzhaarige Junge mit dem wachen Blick die deutsche Sprache. Und seine Behauptung, sein Deutsch sei doch noch nicht so gut, nimmt ihm bald niemand mehr ab. Aber es entspricht dem Bild, das viele von ihm haben: Er ist schüchtern, ruhig und zurückhaltend. Als er vor sieben Jahren Abitur machte, schrieb einer seiner Mitschüler in der Abi-Zeitung: »Ein wahrlich intelligenter Bursche, supergenialer Lateiner, kann die deutsche Grammatik besser als ich«.
Mit der Schule beendet Dimitri auch seine Karriere als Schachspieler. »Das war alles sehr anstrengend. Beim Schach muss man sich sehr konzentrieren und dann mit fremden Leuten in einer fremden Sprache sprechen. Ich konnte dann auch nicht mehr bei der Jugend spielen und es kommt sicher hinzu, dass auch die alten Freunde in Odessa nach und nach mit dem Schach aufhörten.« Heute glaubt er, nicht mehr gut genug zu sein, manchmal spielt er noch am Computer. Vielleicht komme er ja später wieder zurück, sagt er. Ausschließen will er es jedenfalls nicht.
Nach der Schule beginnt Dima, Wirtschaftsinformatik zu studieren. Er sucht nach einer neuen Gruppe und findet sie in der Jüdischen Gemeinde. »Damals kam ein Jugendleiter vom Landesverband. Ein sehr guter Mann. Ein paar von uns hier in Münster haben sich von ihm zum Madrich ausbilden lassen, ich mich auch. Wir haben viel bei ihm gelernt und wir hatten viel Spaß zusammen.« Dimitri schwärmt von den vielfältigen Aktivitäten, den Begegnungen in anderen Städten, den Ferienlagern in Italien, den Reisen mit der Landesverbandsgruppe nach Prag und Wien.
Mittlerweile leitet er selbst die Jugendarbeit in der Jüdischen Gemeinde Münster. »Wir haben jeden Sonntag drei Gruppen, das geht von acht bis 18 Jahren, und die Madrichim treffen sich noch zusätzlich jeden Donnerstag.« Als er damals nach Münster kam, gab es diese Jugendarbeit in der Gemeinde noch nicht. Für Dimitri wäre es sehr gut gewesen, wenn es damals schon so eine Gruppe gegeben hätte. »Ich habe dadurch viele Leute kennengelernt, und es ist auch gut, dass man eine Gruppe hat, wo man auch mal Russisch sprechen kann.«
Mittlerweile hat Dima seine Diplomarbeit geschrieben und sein Studium abgeschlossen. Eigentlich will er jetzt auch mit der Jugendarbeit aufhören. »Ich werde im Sommer 27, und ich denke, das ist jetzt genug. Aber ich habe Angst, dass alles auseinanderfällt.« Am liebsten würde er hier eine jüdische Studentengruppe gründen, oder, weil er ja kein Student mehr ist, eine Gruppe für junge jüdische Erwachsene. So etwas gibt es in der Gemeinde noch nicht.
Das Ende der Ausbildung bedeutet für Dimitri auch, dass er sich eine Arbeit suchen, dass er jetzt Bewerbungen schreiben muss. Er jobbt schon einige Zeit an der Uni als Programmierer am Fachbereich Psychologie, aber eine richtige Stelle in der Wirtschaft sollte es jetzt doch schon sein.
Zukunftsängste, nein, die hat er nicht. »Ich bin gut ausgebildet und werde eine Arbeit finden.« Mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen muss er in dieser Gesellschaft keine Angst haben, das weiß er. Er erzählt, wie im letzten schneereichen Winter das Stromnetz zusammenbrach und es einige Tage keinen Strom gab. »Das war für viele Menschen hier ein großes Problem. Aber da, wo ich geboren wurde, da hat man den Strom immer mal abgeschaltet, und jede Nacht, nicht nur im Winter, gab es zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens kein Wasser.« Trotzdem sei das Leben weitergegangen, erzählt er. Man habe gelernt zu improvisieren und sich anzupassen. »Ich bin sicher, ich habe da Kompetenzen, die mir hier auch im Beruf helfen werden.« Und jetzt, bei dieser Einschätzung, wirkt er plötzlich ganz zielbewusst und selbstsicher. Ein junger Migrant, der mit seinen interkulturellen Er- fahrungen in unserer Gesellschaft angekommen ist.
Im vergangenen Jahr haben ihn die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Münster in ihre Gemeindevertretung gewählt. Dimitri Artarov ist der jüngste Gemeinderat und hat mit 72 Prozent der Stimmen nach dem Vorsitzenden das beste Wahlergebnis. Sein Schwerpunkt ist die Jugendarbeit, und wenn er zukünftigen Zuwanderern einen guten Rat geben soll, dann den, sich besser auf Deutschland vorzubereiten.