von Tobias Kühn
Jascha Nemtsov hält nicht viel von Sport, obwohl er täglich vier Stunden trainiert. Jeden Morgen gegen 9 setzt er sich ans Klavier und übt. Doch weil er bei diesem Training nur Hände und Finger bewegt, ist der hochgewachsene 43-Jährige nicht muskulös. Aus seinem kurzärmeligen Hemd schauen dünne Arme hervor. Nein, Sport ist ganz und gar nicht sein Hobby. Mit Sport kann man Jascha Nemtsov jagen. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr flüchtete er nach Sankt Petersburg, wo er zur Schule ging und am Konservatorium studierte.
Seit 15 Jahren lebt Nemtsov in Deutschland, er ist Konzertpianist und Musikwissenschaftler. In Berlin, im Stadtteil Charlottenburg wohnt er in einem Gründerzeit- haus. Sein Arbeitszimmer, ein großer weißer Raum mit Stuckdecke, wirkt schlicht und leicht: rechts ein kleines helles Sofa, links ein langes IKEA-Regal mit unzähligen Ordnern und Kartons, am hinteren Ende drei Erkerfenster, die den Blick in die Kronen einiger junger Ahornbäume freigeben. Im Zentrum des Raumes steht ein riesiger schwarzer Flügel, über den – wohl um ihm das Mächtige zu nehmen – ein helles Tuch ausgebreitet ist. Hell und jugendlich wie dieser Raum wirkt auch Jascha Nemtsov. Seine Haut ist glatt, jungenhafte Züge prägen sein Gesicht, nur die starken Brauen, die wie dicke Linien völlig gerade über seinen Augen wachsen, lassen erkennen, dass er keine 20 mehr ist.
Als Jascha Nemtsov vor fünf Jahren eine Bekanntschaftsanzeige aufgab, verschwieg er sein Alter. Mit Erfolg. Er fand die Frau für’s Leben: Sara, 17 Jahre jünger als er. Eine ganz unglaubliche Geschichte sei dies, sagt er. »Ich habe schon mehrfach hier in diesem Land glückliche Zufälle erlebt, aber das größte Glück sitzt nebenan im Zimmer.« Von dort dringt alle paar Minuten ein klägliches Pfeifen herüber wie von einem Blesshuhn. Sara ist Oboistin, gerade schnitzt und testet sie Mundstücke für ihr Instrument. Mit leuchtenden Augen erzählt Jascha, wie er sie kennenlernte: Ein Bekannter empfiehlt ihm eines Tages die Webseite www.juden.de, man könne dort Hinweise auf jüdische Kulturveranstaltungen finden. Der Pianist schaut sich die Seite an, stößt auf die Rubrik »Bekanntschaften« und schreibt, ohne lange zu über- legen, eine Annonce. Lange Zeit passiert nichts, »abgesehen von ein paar blöden Zuschriften«, doch dann, nach Monaten, »es war am 3. August 2003, da kommt die E-Mail von einer Sara, sie schreibt, dass sie Oboe und Komposition studiert und Interesse hätte«. Dann geht alles ganz schnell. Die beiden schreiben einander jeden Tag, die Mails werden länger und aufregender, wenige Wochen später verloben sie sich, Anfang 2004 sind sie verheiratet. »Von uns aus wäre es noch schneller gegangen«, sagt Nemtsov und grinst, »doch ich musste viele Urkunden vorlegen, weil ich nicht in Deutschland geboren bin.«
Er lehnt sich in seinem Sessel zurück, zieht die Augenbrauen nach oben und wirkt jetzt trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung sehr reif. »Ich fühle mich heute in Deutschland absolut zu Hause«, sagt er, »schon seit Jahren denke ich nicht mehr, dass ich für dieses Land zu sehr Russe bin.« Zwei Sätze mit Vorgeschichte.
Im Sommer 1992 kommt Jascha Nemtsov mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Deutschland. Weil sie dem Bundesland Baden-Württemberg zugeteilt sind, verbringen sie die ersten Monate in Esslingen in der sogenannten Landesaufnahmestelle. Jascha ist damals kaum in der Lage, einen Satz auf Deutsch zu sagen. Ein niederschmetterndes Gefühl – zumal er zu Hause in Sankt Petersburg begonnen hatte, die fremde Sprache zu lernen. »Mein Wortschatz war groß, aber ich hatte nur passive Kenntnisse.« Bald kommt ihm eine Idee: Er bietet der Sozialarbeiterin im Wohnheim an, für sie zu dolmetschen. »Das war der beste Sprachkurs, und ich hatte danach keine Hemmungen mehr.« Doch die Folgen für den sprachkundig Gewordenen waren ambivalent: Immer mehr Menschen kamen zu ihm und baten ihn, etwas für sie zu übersetzen oder sie zu einem Amt zu begleiten. »Es gab Abende, da kam ich abends nach Hause ins Wohnheim, und da standen fünf, sechs Leute vor meiner Tür und wollten etwas.« Zunächst habe er das ganz schön gefunden, »man will ja auch helfen«, aber irgendwann merkte Jascha, dass er ausgenutzt wurde.
Anders als die meisten Zuwanderer blieben die Nemtsovs ungewöhnlich lange in der Aufnahmestelle. Das hatte den Vorteil, dass sie das System durchschauten und mitbekamen, dass die meisten in kleinere Städte geschickt wurden wie Altensteig im Schwarzwald, Kreilsheim oder Lörrach. »In einem Dorf oder einer Kleinstadt zu leben, konnten wir uns nicht vorstellen«, sagt Nemtsov. Also kämpften sie und harrten in Esslingen aus – bis sie Plätze in einem Wohnheim in Stuttgart bekamen. Dort blieben sie zwei Jahre, dann fanden sie bezahlbare Wohnungen.
»Sehr schnell lernte ich Leute kennen«, sagt Nemtsov und breitet seine Arme aus. Es hat den Anschein, als hieße der Fremde die Einheimischen willkommen. Gelegentlich war es wohl auch so. Obwohl Jascha Nemtsov auch schüchtern sein kann, hat seine offene freundliche Art schon so manchen Deutschen aus der Reserve gelockt. »Ich entdecke das Land durch die Menschen«, sagt er. Doch seien es kaum Kontakte in der jüdischen Gemeinde, sondern vor allem Begegnungen über die Musik.
Von Esslingen aus fuhren die Nemtsovs an jedem Schabbat nach Stuttgart, »die jüdische Gemeinde übernahm die Fahrtkosten«. Nach dem Gottesdienst gingen sie spazieren und schauten sich die Stadt an. An einem der ersten Samstage kamen sie an der Musikhochschule vorbei. Der Pianist ging hinein und las am Schwarzen Brett eine Anzeige, die ihn ansprach: Jemand suchte einen Klavierlehrer und Unterricht in Gehörbildung. »Ich überlegte, ob ich mich trauen sollte, denn ich konnte noch nicht gut Deutsch und hatte kaum Lehrerfahrung.« Schließlich rief er an. Seine erste Schülerin war eine Rechtsanwältin. »Durch sie habe ich Kontakte zu ihrem ganzen Freundeskreis bekommen, ich wurde förmlich weitergereicht.« In kürzester Zeit lernte Nemtsov viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten ken- nen. »Diese Frau lud jeden Monat zu einem Jour fixe ein, da kamen verschiedene Leute hin, ich fand das sehr anregend. Es gab anspruchsvolle Gespräche über Literatur, Politik, Reisen.« Über Fußball und Autos habe man nie gesprochen, sagt der Sportverächter und lacht sein helles Jungenlachen.
An der Musikhochschule findet Jascha Nemtsov nach und nach weitere Zettel am Schwarzen Brett, zeitweise unterrichtet er 12 bis 14 Privatschüler. Später kommt eine Stelle an der Musikschule einer kleinen Stadt südlich von Stuttgart hinzu, und eines Tages fängt Jascha Nemtsov an zu forschen. Er zeigt auf sein IKEA-Regal. »Die vollständigste Sammlung von Werken der sogenannten Neuen Jüdischen Schule. Mein Archiv ist einzigartig auf der Welt.« Dutzende Kästen und Mappen voller Kopien türmen sich da, zusammengetragen aus Archiven und Bibliotheken in Russland, Ame- rika, Israel und Österreich. Gefördert hat die Forschungsreisen die Robert-Bosch-Stiftung. Gemeinsam mit einem Kollegen bekam Jascha Nemtsov zunächst ein Einjahresprojekt bewilligt, später ein Dreijahres- projekt. Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kollegium Jüdische Studien der Uni Potsdam, und im Jahr 2004 promovierte er. »Mit dieser Arbeit über die Neue Jüdische Schule war ich ein absoluter Pionier.«
In den kommenden Monaten wird Jascha Nemtsov seine Habilitationsschrift verteidigen. Das Thema: »Der Zionismus in der Musik«. Das Konzertieren hat der 43-Jährige jedoch nicht aufgegeben. Es gibt inzwischen 20 CDs von ihm. Erst vor wenigen Tagen hat er gemeinsam mit dem Geiger Kolja Blacher für eine Einspielung von Sonaten für Violine und Klavier von Dmitri Schostakowitsch und Moisej Weinberg den Preis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen. Jascha Nemtsov ist angekommen in Deutschland. Er hat es geschafft. »Ich bin integriert. Mehr geht nicht.«