von Tobias Kühn
Galina Kravtchouk hat schlecht geschlafen. Wie fast jede Nacht, seit die 50jährige an den Roßplatz gezogen ist, mitten in die Leipziger Innenstadt. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer 16jährigen Tochter lebt sie in einer Sozialwohnung in einem repräsentativen Haus aus der Stalinzeit. Mondänes Treppenhaus mit Stuckornamenten, Flure groß wie Hallen, dunkelbraun gestrichene Stahlsäulen. Und es ist still. Galina Kravtchouk verdreht die Augen und winkt ab. »Sie müssen mal nachts kommen, da wird hier gesungen.« Im Erdgeschoß, sagt sie, befinde sich eine Karaoke-Bar, die jede Nacht geöffnet hat, das ganze Jahr über. »Abends um 10 geht’s los, das letzte Lied wird manchmal früh um drei gespielt.« Daran gewöhnt hat sie sich bis heute nicht, doch mittlerweile erträgt sie den Lärm mit Humor – und Ohropax. »Die Miete ist nicht sehr hoch«, sagt sie, »wir sind drauf reingefallen.« Zwischen den Anlagen zum Mietvertrag habe ein Zettel gelegen, auf dem im Kleingedruckten auf die laute Bar hingewiesen wurde. Ohne zu lesen, unterschrieben sie ihn.
Galina Kravtchouk ist eine kleine Frau. Ihr kurzes, blondes Haar ist toupiert, so daß es etwas fülliger wirkt. In der hellmöblierten Küche steht ein winziger Tisch mit drei Stühlen, gerade so viel, wie die kleine Familie braucht. Durchs Fenster sieht man das berühmte Gewandhaus und den Innenstadtring, über den Hunderte von Autos rasen. Drinnen hört man nur das Brodeln des Wasserkochers. »Trinken Sie aromatisierten Kaffee?«, fragt Galina. Sie selbst mag ihn sehr. Doch weil ihr Mann nichts davon hält, fragt sie lieber vorher. In der kleinen Küche riecht es wie bei Starbucks. Galina schließt die Augen und atmet den Duft ein. »Mmh, Nußkaffee.« Sie hat die besondere Mischung aus New York mitgebracht von einem Besuch bei ihren Cousinen. Das war im Februar. Damals hatte sie Arbeit. Heute könnte sie sich so eine Reise nicht leisten.
Galina Kravtchouk ist in Riga geboren und aufgewachsen. Als sie vor zwölf Jahren nach Leipzig kam, war sie 38 – jung genug, um in Deutschland noch beruflich Fuß zu fassen. Sollte man meinen. In Lettland hatte die studierte Psychologin und Logopädin an einer Integrationsschule mit behinderten Kindern gearbeitet. In Leipzig bot ihr das Arbeitsamt nach einem sechsmonatigen Sprachkurs eine ABM-Stelle in einer Textilwäscherei an. Galina denkt nicht gern daran zurück. Sie streicht sich mit der Hand durchs blondierte Haar und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Das Arbeitsklima und viele Kollegen behagten ihr nicht. »Drogenabhängige, Alkoholiker, asoziale Deutsche.« Dennoch muß sie lachen, wenn sie davon erzählt. »Die Arbeit war ein Trampolin«, sagt sie, »nur schnell weg hier, habe ich immer gedacht.«
Galina hatte Glück, das Arbeitsamt bot ihr eine Fortbildung zur Heilerziehungspflegerin an. Ein Jahr lang fuhr sie jeden Tag mit der Bahn zur Schule nach Torgau, 60 Kilometer eine Strecke. »Täglich acht Stunden Medizin, Pädagogik, Psychologie, Recht – und alles in einer fremden Sprache.« Die von den anderen mühelos verstanden wurde – Galina Kravtchouk war die einzige Ausländerin. Doch gelernt habe sie dort sehr viel, »vor allem sprachlich«. Und obwohl sie in Satzbau und Grammatik oft noch Fehler macht, merkt man erst bei genauerem Hinhören, daß Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Den sächsischen Sound hat sie drauf wie eine Einheimische: Wenn sie »unsre Loide« sagt, denkt man, sie meint Urleipziger und nicht Zuwanderer.
Seit einem halben Jahr ist Galina arbeitslos. Wirtschaftlich leidet die Familie dennoch keine Not, denn Juri, Galinas Mann, hat eine Stelle als Elektriker. Früher, in Riga, war er Sportlehrer. Wenn Galina von ihrer letzten Arbeit erzählt, dann strahlt sie. Bis Mai war sie Sozialarbeiterin in einer Sprachheilschule. »Wenn ein Kind den Unterricht störte oder aggressiv war, brachte es der Lehrer zu mir.« Die Stelle wurde vom Arbeitsamt unterstützt, war aber nur auf ein Jahr befristet. Es hat ihr Riesenspaß gemacht. Nun hofft sie, demnächst etwas Neues zu finden. »Mit 50 bin ich ja noch in den besten Jahren. Ich bin gesund, ich will was tun.« Bald hat sie einen Termin beim Arbeitsamt. Ihr Wunsch: »Endlich mal eine feste Stelle.« Am liebsten als psychologische Beraterin in der jüdischen Gemeinde. »Aber die hat kein Geld dafür.« Galina blickt in ihre leere Kaffeetasse. Nach einer Weile sagt sie: »Doch unsere Leute brauchen das.« Viele Zuwanderer hätten Depressionen. Sie litten unter Migrationsstreß, vor allem die Alten kämen mit der fremden Sprache nicht zurecht.
Galina Kravtchouk geht selten zu Veranstaltungen in die Gemeinde. Sie weiß, daß von den rund 1.500 Mitgliedern 98 Prozent Zuwanderer sind wie sie, und sie weiß auch, daß die meisten arbeitslos sind oder alt und von Sozialleistungen leben. Trotzdem fragt Galina: »Was tut die Gemeinde eigentlich für mich?« Sie erzählt, daß sie vor drei Jahren eine Stelle in einer evangelischen Kirchengemeinde hätte bekommen können, als Sozialarbeiterin. Sie hatte dort ein Jahr gearbeitet, und ihre ABM-Stelle lief aus. Da habe der Pfarrer sie zur Seite genommen und ihr eine feste Stelle angeboten. Allerdings unter der Bedingung, Kirchenmitglied zu werden. Galina war entsetzt. »,Man läßt sich doch nicht einfach taufen‹, sagte ich zu ihm, ›so etwas muß doch von Herzen kommen.‹« Daß Galina Jüdin ist, wußten weder der Pfarrer noch die Kolleginnen. »Es ist nicht so, daß ich es verleugne. Aber wenn ich nicht direkt gefragt werde, sage ich es auch nicht.«
Galina steht auf und setzt erneut Wasser an – für einen zweiten Nußkaffee. Auf dem Fensterbrett in ihrer Küche liegen rot-grün gestreifte Früchte, die dicksten sind faustgroß. »Eigene Ernte«, sagt sie. Zierkürbisse? »Nein!« Sie kichert wie ein Schulmädchen, die Ahnungslosigkeit ihres Besuchers amüsiert sie. »Das sind Tomaten! Eine lettische Sorte. Die Samen habe ich aus Riga mitgebracht.« Alle vier Jahre fährt sie hin, die Verwandten ihres Mannes besuchen und die Gräber der Großeltern.
Seit einigen Jahren hat Galina einen Schrebergarten. 200 Quadratmeter Freiheit. »Ein kleines Stück, aber das ist meine Erde hier im fremden Land. Da kann ich pflanzen, was ich will, und da steht mein Bungalow.« Über den Gartenzaun hat sie schon so manche neue Bekanntschaft gemacht. »Wir tauschen Ratschläge und Blumenzwiebeln miteinander aus.« Ihre offene Art, der frohe Blick aufs Leben und der Leipziger Zungenschlag kommen bei den Gartenfreunden gut an. Eine Nachbarin, sagt Galina, sei auch Zuwandererin. Mit ihr verstehe sie sich besonders gut. »Aber wenn wir Russisch miteinander sprechen, flüstern wir.« Warum? »Es ist besser so«, antwortet Galina. Mehr sagt sie nicht. Ganz ungetrübt scheint das Schrebergartenidyll offenbar nicht zu sein. Vielleicht liegt es auch an Galina selbst. Sie erzählt anderen nicht, daß sie Jüdin ist, möchte jedoch auch nicht für eine Russin gehalten werden. Am liebsten wäre sie wohl schon in Leipzig geboren.
Seit drei Jahren haben sie und ihr Mann deutsche Pässe. Galina erzählt, daß ihre Tochter Eleonora später Polizistin werden möchte oder zur Bundeswehr gehen will. »Wir haben diesem Land so viel zu verdanken, wir sollten ihm auch etwas zurückgeben.« Eleonora sei inzwischen derart heimisch in Deutschland, daß sie sogar mit ihrer Freundin, die auch in der Sowjetunion geboren ist, Deutsch spricht. Manchmal betrachtet Galina das rasante Tempo, in dem ihre Tochter sich integriert, auch mit einem weinenden Auge. »Schade, daß sie Puschkin und Dostojewski nicht im Original lesen kann. Sie spricht so schlecht Russisch.« Doch weil Galina ein Mensch ist, für den ein halbleeres Glas halbvoll ist, sagt sie nach einer Weile: »Aber anders als ihre Eltern kann Eleonora Heine und Schiller im Original lesen.«
Der zweite Nußkaffee ist ausgetrunken. Ohne ihn müßte Galina Kravtchouk wohl Mittagsschlaf halten. Denn die Nächte sind laut am Leipziger Roßplatz.