von Vladimir Vertlib
Am 19. Dezember 1986 wurde ich österreichischer Staatsbürger. Der Tag meiner Einbürgerung verlief folgendermaßen: Ich kaufte am Kiosk des Amtsgebäudes Stempelmarken im Wert von 14.000 Schilling (heute wären das ungefähr 2.000 Euro) und ging hinauf in den zweiten Stock. Dort erwartete mich in einem Großraumbüro eine Dame mit dem beängstigend klingenden Titel »Verwaltungsoberoffizial«. Frau Verwaltungsoberoffizial klebte die Stempelmarken auf meine Einbürgerungsurkunde, machte ein paar Bemerkungen über das »grausliche Wetter«, holte aus einer Schublade ein kleines, abgegriffenes Blatt Papier heraus und bat mich aufzustehen. Dann las sie mir einen aus wenigen Sätzen bestehenden Text vor, der mit »Ich gelobe« begann und mit »Dies gelobe ich« endete.
Im Großraumbüro war gerade »Parteienverkehr«. Menschen kamen und gingen. Ihre Stimmen und das Klappern der Schreibmaschinen füllten den Raum. Es kostete mich einige Mühe, den Worten von Frau Verwaltungsoberoffizial zu folgen. Dennoch verstand ich ihren Text sinngemäß so, dass ich die österreichischen Gesetze achten sowie mein neues Heimatland und dessen Bild im In- und Ausland »positiv vertreten« solle. Bedeutete dies, dass ich in Zu- kunft keine allzu kritischen Bemerkungen über die Zustände in Österreich mehr machen durfte? In Zeiten der Waldheim-Affäre und der ersten Wahlsiege Jörg Haiders schien mir das eine stimmige, aber deshalb nicht minder infame Bedingung für die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu sein. Aber ich fragte nicht nach, sondern sprach vorschriftsgemäß den Text. Frau Verwaltungsoberoffizial händigte mir die Urkunde aus. Das war’s.
Hätte es in Österreich damals einen ähnlichen Einbürgerungstest gegeben wie den, der demnächst in Deutschland eingeführt werden soll und heftig diskutiert wird (vgl. S. 2 und 19), hätte ich ihn wahrscheinlich problemlos bestanden. Ich sprach Deutsch ohne Akzent, besaß eine österreichische Matura und nahm als Student regelmäßig an den hitzigen Debatten teil, die in diesen Jahren rund um die Bewertung der österreichischen Vergangenheit geführt wurden. Aber machte mich das schon zu einem »richtigen« Österreicher? Oder waren nicht vielmehr die Erfahrungen von zehn Jahren Migration, von Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und so mancher »lustigen Bemerkung« in der Wiener Straßenbahn eher dazu angetan, mich in ein emotionales Nie- mandsland zu drängen und meine Identität im Ungefähren zu belassen? War man ein besserer Österreicher, wenn man wusste, dass Innsbruck die Hauptstadt von Tirol und der Nationalsozialismus eine Diktatur gewesen ist? Oder wenn man dieselbe Meinung wie der damalige österreichische Bundespräsident vertrat, dass die Wehrmachtssoldaten »nur ihre Pflicht« getan hätten? Was ist mit jenen, die der österreichischen Fußballnationalmannschaft die Daumen drücken, aber fest davon überzeugt sind, Innsbruck liege in Kärnten?
Eigentlich habe ich nichts gegen einen Einbürgerungstest. Im Gegenteil. Nicht alle, aber doch die meisten Fragen, die man den deutschen Neubürgern stellen wird, scheinen mir sinnvoll zu sein. Man braucht nicht besonders intelligent zu sein, um sie zu verstehen und die Antworten auswendig zu lernen. Von jemandem, der sich um eine Staatsbürgerschaft bewirbt, kann man erwarten, dass er sich zumindest einmal in seinem Leben mit den Grundlagen beschäftigt, auf denen der betreffende Staat aufgebaut ist. In Ländern wie den USA, deren Selbstverständnis als Zuwanderernation niemand infrage stellt, gehört eine Prüfung in Staatsbürgerkunde zum Einbürgerungsritual. Ein Ritual diskriminiert nicht, sondern wertet ein Ereignis auf, ordnet ihm eine höhere symbolische Bedeutung zu.
Die Realität kann jedoch niemals durch ein Ritual ersetzt werden. Reale integrative Maßnahmen sind weitaus wichtiger und komplexer als das Abfragen simpler Tatsachen. Real ist wirkliches Wissen und nicht eines, das auf Multiple Choice beruht. Real sind auch jene Emotionen und Grundhaltungen, die nur mit undemokratischen Mitteln »geprüft« werden könnten.
Die Realität des Landes, dessen Staatsbürger ich nun schon seit mehr als 20 Jahren bin, sieht so aus, dass der Bundesparteiobmann der FPÖ, Heinz-Christian Stra- che, die Abschiebung von Langzeitarbeitslosen mit ausländischem Pass und die Einführung unterschiedlicher Sozialversicherungssysteme für In- und Ausländer for- dert. Meinungsforschern zufolge könnte die FPÖ bei den kommenden Nationalratswahlen im September »einen Erdrutschsieg einfahren«. Ob solcher Realitäten erscheint mir die deutsche Debatte rund um den Einbürgerungstest wie ein Sommertheater mit hohem Unterhaltungswert.
Der Autor, 1966 in St. Petersburg geboren, lebt als Schriftsteller in Salzburg. Zuletzt erschien von ihm im Deuticke Verlag »Mein erster Mörder«.