von Ralf Pasch
Es gibt kaum einen Moment, in dem Grigori Lagodinsky kein Lächeln auf den Lippen hat. Das Lebensmotto des 24jährigen Jurastudenten aus Kassel lautet: »Ich probiere es einfach mal aus.«
Die Lust auf das Neue scheint bei ihm stärker zu sein als die Angst davor. Als er 1993 mit seinem Bruder, seinen Eltern und den Großeltern Rußland verließ, freute sich der damals Elfjährige auf das »gelobte westliche Ausland«.
Bis dahin hatte er in Astrachan gelebt, einer Stadt am Kaspischen Meer mit etwa einer halben Million Einwohnern. Die Heimat zu verlassen, war für die Eltern keine leichte Entscheidung. Schließlich stand für sie vor allem beruflich einiges auf dem Spiel. Der Vater war Chefarzt an einem Klinikum, die Mutter lehrte an einer Ingenieurschule. Würden sie in Deutschland einen Job finden? Doch mehr als um die eigene Zukunft ging es den Eltern um die Perspektiven für Grigori und seinen sechs Jahre älteren Bruder. Doch da war noch etwas anderes: »Wir fühlten uns in diesem Land nicht mehr sicher«, sagt Grigori Lagodinsky. An die Stelle des staatlichen Antisemitismus war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der unberechen- bare »Alltagsantisemitismus« getreten.
In Astrachan wurden in dieser Zeit zwar wieder häufiger Gottesdienste abgehalten und die Feiertage gemeinsam begangen. »Ich kann mich aber nicht erinnern, daß wir am jüdischen religiösen Leben teilgenommen haben«, sagt Grigori.
Die ersten Wochen in Deutschland, damals vor 13 Jahren, verbringen die Lagodinskys zunächst im holsteinischen Neumünster in einem Wohnheim. »Ein Zimmer mußte für sechs Personen reichen.« Dann heißt es erneut Koffer packen und in ein anderes Heim umziehen: nach Norderstedt bei Hamburg. Die Ankunft dort nennt Lagodinsky einen der negativsten Momente seines Lebens. »Zwei Wohnheime standen mitten auf einem Feld, Ziegen und Hühner tummelten sich rundherum.« Ein Jahr verbringt die Familie dort. Grigori besucht zunächst eine Hauptschule, später wechselt er ins Gymnasium. »Wir waren nicht vorgewarnt worden, daß es in Deutschland verschiedene Schultypen gibt«, sagt er. Da er zu diesem Zeitpunkt kaum Deutsch spricht, sind die ersten Tage für ihn nicht leicht. »Ich saß mit großen Augen im Unterricht.« Die Eltern hatten in Rußland an einem Deutsch-Intensivkurs teilgenommen und den Sohn zwar einige Male mitgenommen. Der war dort aber meist eingeschlafen, denn der Unterricht fand abends statt. Nun büffelte Grigori Lagodinsky zu Hause im Wohnheim, um mit der Sprache klarzukommen.
1994 zieht die Familie nach Kassel. In eine eigene Wohnung. »Zum ersten Mal nicht ständig fremde Leute um uns herum.« Der Vater hat eine Stelle als Arzt in einem Krankenhaus gefunden. Und das, nachdem er gerade mal etwas länger als ein Jahr in Deutschland war und die Sprache nur bruchstückhaft beherrschte. »Ich bin stolz auf ihn«, sagt sein Sohn Grigori heute.
In Kassel geht Grigori weiter aufs Gymnasium und bekommt schließlich ein Stipendium des Bundestages für ein Austauschjahr in den USA. »Das war eine Superchance, weil es meine Eltern nie hätten finanzieren können.« Das erste Mal ging Grigori allein auf Reisen. »Und dann noch in ein fremdes Land.« Kaum, daß er halbwegs Deutsch beherrschte, mußte er sich schon wieder mit einer fremden Sprache durchs Leben boxen.
Nach dem Abitur möchten die Eltern, daß Grigori wie sein Vater Medizin studiert. Doch der Sohn findet »die Juristerei interessanter« und schreibt sich 2002 an der Uni Göttingen ein. Derzeit bereitet er sich auf das erste Staatsexamen vor. »Gerechtigkeitsdenken« sei ein Grund für seine Wahl gewesen, sagt Grigori. »Man muß wissen, welche Rechte man hat – man muß es auch anderen sagen können.« Anwalt ist sein Berufswunsch, doch auch das öffentliche Recht fasziniert ihn.
Seit einem Jahr ist Grigori Lagodinsky Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel. Der junge Mann möchte unter anderem eine Internetseite einrichten, auf der sich die Gemeinde präsentieren soll.
In Rußland hatte sich Lagodinsky auch ohne religiösen Bezug als Jude gefühlt, schließlich stand es im Paß der Eltern. In Deutschland nun bot sich plötzlich die Freiheit, die Religion auch auszuüben. »Trotzdem«, gesteht Lagodinsky, »sind wir nicht fromm geworden.« Die Familie halte zwar die Feiertage ein und nehme am Gottesdienst teil. »Doch unser Leben konzentriert sich nicht auf die Religion.« Jude zu sein, ist »mehr, als sich am Schabbat nicht zu bewegen oder an Jom Kippur zu fasten«, meint er.
Für Grigori gehört dazu auch Engagement für die Gemeinde. Das begann, als er noch Schüler war. Gemeinsam mit anderen organisierte er Treffen für Jugendliche. Der Traum von einem Jugendzentrum scheiterte am mangelnden Platz im Gemeindehaus, das zwar erst ein paar Jahre alt, aber für die erheblich gewachsene Gemeinde schon wieder viel zu klein ist. Trotzdem stellen junge Leute heute eigene Veranstaltungen auf die Beine. Es sei eine große Kunst, die Jugendlichen zu motivieren, ohne sie dabei mit ausschließlich religiösen Themen zu erschlagen.
»Viele Zuwanderer mögen nicht nur den Kultus, ihnen ist auch die Kultur wichtig«, sagt Grigori. Er spricht von der intensiven Beziehung seiner Landsleuten zu Literatur, Musik und Theater des Heimatlandes. Weil es »nicht immer etwas mit dem Judentum zu tun hat«, stößt es in der Gemeinde mitunter auf Ablehnung, beobachtet Lagodinsky. In den USA, wohin er kürzlich zur Feier des 100. Geburtstag des American Jewish Committee reiste, gehe man offener damit um, sagt er.
Für ihn steht fest: »Auch die Dinge, die über die Religion hinaus mit der jüdischen Identität zu tun haben, tun den Menschen gut.« Schließlich sei die Kultur eine Möglichkeit, um miteinander in Kontakt zu kommen. Religion und Kultur zu verbinden, sieht Grigori als eine seiner wichtigsten Aufgaben im Gemeindevorstand.
Grigori Lagodinsky ist seit seiner Ankunft in Deutschland nicht mehr in Rußland gewesen. »Manchmal denke ich«, sagt er, »daß der erwachsene Blick auf meine Heimatstadt die schönen Erinnerungen an meine Kindheit verwischen oder gar vernichten könnte.« Die politische Entwicklung in Rußland beobachtet er mit Sorge. Zwar sieht er Chancen für eine positive Entwicklung, doch der aufkommende Nationalismus macht ihm angst.
Ein Lächeln hingegen zeigt sich wieder auf seinem Gesicht, wenn er über die Situation jüdischer Einwanderer seiner Generation in Deutschland spricht. »Vielversprechend« findet er ihre Integration. »Der Großteil von ihnen besucht Gymnasien und wird danach studieren.« Grigori hütet sich, Integration mit Assimilation zu verwechseln. Es gehe darum, die eigene Kultur zu bewahren und sich gleichzeitig in die Gesellschaft einzubringen. »Das ist wirklich Multi-Kulti.« Deshalb ist es für ihn dann auch kein Problem, daß die Eltern in russischen Geschäften einkaufen und er mit ihnen zu Hause Russisch spricht.
In Kassel fühlt Grigori sich zu Hause und sicher. »Ich verstecke nicht, daß ich Jude bin. Allerdings passiert es ab und zu, daß ich wie im Zoo betrachtet werde, weil die Leute vielleicht noch nie einen lebenden Juden gesehen haben.«