Ich mag den Kontakt mit Menschen, mag es, mit ihnen zu sprechen, zu diskutieren. Ich gehe auf alle zu. Ich bin nicht wie andere, die selektieren, die sich sagen, oh da geht jemand mit der FAZ unterm Arm, der ist bestimmt sehr klug. In meine Ausstellungen kommen alle: die Putzfrau, die Verkäuferin, der Kanalarbeiter, der muskelbepackte türkische Jugendliche, der Arzt, der Uni-Professor. Wenn die Menschen zu mir kommen, spreche ich sie meistens ganz direkt auf meine Bilder an. Ich möchte wissen, ob sie etwas mit ihnen anfangen können. Der Boden meines Ateliers ist, obwohl ich sehr gern ganz groß male, fast komplett bedeckt mit kleinen Bildern, es ist ein einziges großes Durcheinander. Es ist alles da, wie in einem Kaufhaus. Wenn ich ausstelle, können die Besucher in meinen Bilderhaufen wühlen, sie können die Bilder neu miteinander kombinieren und sie woanders hinlegen. Was ich schön fände: wenn meine Bilder noch nach tausend Jahren vibrieren würden.
Ich kam 1928 in Kassel zur Welt und wuchs in einem deutsch-polnisch-jüdischen Elternhaus auf. 1933 siedelten wir nach Belgien um, 1935 nach Palästina. Für mich war meine neue Heimat ein Paradies mit Meer, Schlangen, Skorpionen und viel Sand. Wie Hawaii und Tahiti. Mit acht Jahren hörte ich zum ersten Mal Beethoven, ich liebe seine Musik. Beethoven macht dauernd Krach. Bei ihm ist immer was los. Ich mag ihn, weil er einfach spontan loslegt: Bu-u-ummm! Mit 13 habe ich bereits kleine Bilder auf der Straße verkauft. Ich studierte in Tel Aviv an der Akademie für Kultur und Kunst, kämpfte von 1948 bis 1950 in der Armee. Irgendwann hatte ich das Gefühl, mich als Künstler nicht mehr weiterentwickeln zu können. Israel wurde mir zu eng, da ging ich nach Deutschland.
Ich war unbefangen, dachte nur, so sind also die Deutschen. So lieb und nett? Die junge Generation hat mir gefallen, wie die so kompromisslos gegen ihre Väter kämpfte. Im Frankfurter »Club Voltaire«, in dem ich oft saß, waren auch Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit regelmäßig zu Gast. Das war eine schöne Zeit, Mikis Theodorakis spielte am Klavier, und Nana Mouskouri sang dazu. Ich war da etwa Mitte 40, rauchte Meskalin und auch Hasch. Schon damals war ich eher der Einzelgänger, ich war nie in der Linken organisiert. Durch die Kunst hat man immer eine gewisse Distanz. So wie man sich selbst und die Arbeiten immer wieder infrage stellt, stellt man auch das, was um einen herum geschieht, infrage.
Heute lebe ich sehr gesund. Kein Alkohol. Keine Zigaretten. Ich esse viel Gemüse, Möhren, Brokkoli, Sellerie, dazu Kartoffeln, Reis, Hirse. Alles Vollkorn. Fünf Mal Fisch pro Woche, zwei Mal Soja, ein Mal Pute. Dazu Salate und viel Obst. Wichtig ist der Knoblauch. Ich esse sehr viel Knoblauch. Die anderen sagen manchmal, sie würden eher im Gefängnis essen wollen als bei mir, so karg seien meine Mahlzeiten. Meine einzige Sünde: Ich liebe dunkle Schokolade, vier Riegel am Tag gönne ich mir. Schon in Israel, wo ich direkt am Meer in einer kleinen Baracke lebte, ernährte ich mich fast ausschließlich von Wassermelonen und Orangen. Damals ging ich oft schwimmen, Bewegung ist noch heute wichtig für mich. Jeden Tag gehe ich bis zu sechs Kilometer zu Fuß. Frauen fragen mich oft, welche Antifaltencreme ich benutze. Weil meine Haut so jung aussähe. Männer fragen mich das nie.
Ich sehe anders aus als die anderen und falle auf. Auf einer Künstlerfete traf ich einmal ein junges 17-jähriges Mädchen, das malte allen Männern mit einem Kajalstrich die Augen an. Auch ich ließ meine Augen umranden. Es faszinierte mich, man sieht sich plötzlich in einem anderen Licht. Wieso, frage ich mich oft, muss man sich an Normen halten, nur weil die Rollen von Mann und Frau auf eine bestimmte Art unterteilt sind? Bis heute male ich mir die Augen mit Kajal schwarz. Es gefällt mir. Dass ich meine Kleider mit neonfarbenem Graffitispray versehe, fing damit an, dass ich mir vor vielen Jahren aus Versehen bei der Arbeit die Hose besprühte. Ich dachte: »Oh, das sieht aber interessant aus, warum muss Farbe eigentlich auf dem Papier bleiben?« Manche halten mich für einen Stadtstreicher oder einen Dealer. Vor einigen Wochen saß ich an der Haltestelle, da kam eine Frau vorbei und gab mir 20 Euro. Sie sagte: »Aber bitte nicht vertrinken!« Ich gehöre auch zu denen, die in Frankfurt immer wieder von der Ordnungspolizei aufgefordert werden, ihren Ausweis zu zeigen. Ich möchte mit meiner Erscheinung die Sehgewohnheiten der Menschen hinterfragen. Mit meinen Bildern ist das ganz ähnlich. Alle fragen mich, warum die Frauen auf meinen Bildern drei Beine haben, fünf Augen und drei Brüste. Ich will die gängige Ästhetik brechen. Frauen sind immer gezwungen, schön und sauber zu sein. Deshalb male ich bewusst Frauen, die ihre Menstruation haben.
Zwanzig Jahre verhandele ich nun schon mit meiner Geburtsstadt Kassel darüber, dass sie endlich mal eine Ausstellung meiner Bilder organisieren möge. Zumindest zu meinem 80. Geburtstag hätten die das machen können. Das ist für mich schon ein bisschen deutsch, diese Gefühllosigkeit. In Frankfurt wollte ich meine Bilder eigentlich im Jüdischen Museum zeigen, aber auch daraus wurde nichts, jetzt hängen und liegen sie in der »Ausstellungshalle«, einem alten, zur Galerie umfunktionierten Hinterhof-Industriegebäude. Na ja, das Jüdische Museum hat die Schau zumindest mit gesponsert. Für eine Ausstellung im eigenen Haus war ich denen allerdings nicht koscher genug. Wenn ich Frauen mit drei oder sieben Brüsten male, finden das Jugendliche, die sonst nie in ein Museum gehen würden, affengeil, abgefahren und ziemlich schräg, aber das Jüdische Museum möchte so etwas nicht in seinen Räumen präsentieren. Man möchte sich lieber mit Künstlern wie einem Nussbaum oder einem Chagall und mit Intellektuellen wie Reich-Ranicki schmücken. Damit keiner sagen kann: »Uuh, es gibt ja auch völlig schräge Vögel unter den Juden!« Dabei würde eine größere Offenheit den Juden zu mehr Achtung verhelfen. Man würde sagen: »Wow, habt ihr gesehen, was die im Jüdischen Museum gerade zeigen?« Aber so ist das doch dort wie in einem Altersheim. Immer dasselbe Publikum, dann kommt der Kulturdezernent, danach die Oberbürgermeisterin, es gibt ein bisschen Hava Nagila, und dann ab nach Hause.
Gestern war ich im Städel-Museum, da hat die Europäische Zentralbank Fotoarbeiten gezeigt – war das eine steife Gesellschaft! Ich habe die Gelegenheit genutzt und Flyer von meiner aktuellen Ausstellung verteilt. Da kam so eine Art Blockwart zu mir und sagte, dass ich das hier nicht machen könne. Zu spät, habe ich da nur gesagt. Ich bin so ein Typ, der nicht fragt, sondern einfach auf der Bildfläche aufkreuzt. Demnächst werde ich in der St. Petersburger Eremitage gemeinsam mit sechs jungen Künstlern ausstellen. Eine Frau, die dabei sein wird, habe ich erst vor wenigen Tagen kennengelernt. Wenn ich jemanden interessant finde, frage ich: »Willst du mit nach St. Petersburg?« Die denken dann wahrscheinlich, ich bin senil oder verrückt. Was ich an den Russen mag: Für sie sind Künstler Götter. Vor einem halben Jahr war ich schon einmal mit drei jungen Künstlern in St. Petersburg. Ich mag junge Menschen, denn sie sind spontan und nehmen sich nicht so furchtbar ernst.
Wenn Menschen Fehler machen, werden sie mir sympathisch, vor Perfektionisten habe ich Angst. Ich lebe übrigens allein, ohne die Nähe zu einem Menschen zu vermissen. Eine Frau würde es keine zwei Tage mit mir aushalten. Und ich nicht mit ihr. Allein wenn ich mir vorstelle, sie würde rufen: »Max, kannst du bitte schnell mal einkaufen fahren?« Wenn ich nicht ungehindert alles aus mir herausmalen könnte, wäre ich wahrscheinlich schon lange in der Psychiatrie. Das heißt allerdings nicht, dass mich Frauen nicht beschäftigen. Ich male sie ja sehr oft. Wie sie mit ihren Armen und Beinen schlenkern. Wenn eine Frau durch die Straßen geht, hat sie einen solchen Schwung an sich, das ist toll. Und alle fünf Minuten macht sie eine andere Bewegung. Männer sind im Vergleich dazu starr. Vor allem Stadtmänner. Diese Steifheit und Starrheit macht sie mir manchmal unheimlich, sie erinnern mich dann an Massenmörder.
Aufgezeichnet von Annette Wollenhaupt