eden Morgen gegen 7 Uhr stehe ich auf und gehe in den Park joggen. Mit 50 bin ich kein junger Kerl mehr und muss etwas für meine Gesundheit tun, sonst hält sie nicht mehr lange. Danach fahre ich zu meinen Kunden. Heute zum Beispiel habe ich in einer Firma die Telefonanlage und die Internetverbindung eingerichtet. Auch abends muss ich oft zu Kunden, die ein Gerät installiert oder repariert haben wollen.
Um 11 Uhr mache ich meinen Laden auf. Vor zwei Jahren habe ich einen PC- und Handy-Shop eröffnet. Das läuft bisher nur so lala. Da mein Deutsch nicht so gut ist, habe ich mir als Zielgruppe die Russischsprachigen ausgesucht. Die sind in Köln zwar zahlreich, um die 43.000, aber die wenigsten sind zahlungskräftig. Sie versuchen, alles selbst zu machen und gucken nur auf den Preis. Meine Hoffnungen nach einer großen Nachfrage haben sich also bisher nicht erfüllt. Aber die, die kommen, sind meist sehr zufrieden und bringen das nächste Mal auch ihre Bekannten mit. Ich mag meine Arbeit, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich im nächsten Jahr so weitermachen kann.
In den sechs Jahren, die ich in Deutschland bin, habe ich viele Versuche unternommen, einen Job zu finden, der meiner Qualifikation – ich bin Bauingenieur und IT-Systemadministrator – entspricht. Alles erfolglos. Also habe ich mich selbstständig gemacht. Ich hatte in Moskau elf Jahre lang eine eigene Baufirma.
Es waren keine finanziellen Gründe, weshalb wir uns zur Auswanderung entschlossen haben, sondern die Gesetzlosigkeit, der Mangel an Sicherheit für die Familie, die Umweltzerstörung. Ich machte mir Sorgen um meine Eltern, die damals in Rente gehen sollten. Ich wollte nicht, dass meine beiden Söhne in Russland Wehrdienst leisten müssen.
Anfangs war es schwierig in Deutschland. Mich quälten die ganze Zeit Zweifel: Warum haben wir das getan? Ich hatte ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber. Aber je besser wir das Land kennenlernen, desto leichter wird das Leben hier. Jetzt gefällt mir Deutschland sehr gut, und ich bin ein Fan der Stadt Köln. Dennoch: Es ist es sehr schwierig, Arbeit zu finden und ohne staatliche Hilfe auszukommen. Besonders in meinem Alter.
Wir Zugewanderten haben alle das Problem der Altersvorsorge. Wir haben keine Chance auf eine auskömmliche Rente, wenn wir nicht 40 Jahre hier gearbeitet haben, und unsere Ansprüche aus der alten Heimat sind miserabel. Wie schaffe ich es, die Familie abzusichern – das ist zur Zeit meine Hauptsorge. Wie lerne ich, hier Geld zu verdienen? Selbst für die Einheimischen ist das nicht leicht, habe ich bemerkt. Aber ich bin von Natur aus Optimist.
Ich mache vor allem Beratung und Verkauf in Sachen Mobilfunk. Es ist sehr schwierig für die Kunden, sich zu orientieren in der Vielfalt des Marktes, in den Modellen und Tarifen, besonders in der fremden Sprache. Ich helfe, den besten Tarif für jeden Einzelnen zu finden und den Vertrag aufzusetzen. Viele kommen auch mit Telefonrechnungen hierher, die ihrer Meinung nach zu hoch ausgefallen sind. Manche haben Schwierigkeiten, den Provider zu wechseln. Andere sind mit ihrer Internetverbindung unzufrieden. Ich erkläre, verhandele mit den Anbietern, und wenn es nicht anders geht, verweise ich die Kunden an einen Rechtsanwalt oder an die Verbraucherzentrale.
Der zweite Teil meiner Arbeit sind die Computer. Ich baue sie nach Wunsch zusammen, repariere, mo-dernisiere, lade die Software auf. Natürlich muss ich auch da beraten, welches Gerät oder welche Komponente man am besten kauft. Außerdem gebe ich Computerkurse für Anfänger – auf Russisch. Für die Anfänger ist es sehr wichtig, zunächst alles in ihrer Muttersprache erklärt zu bekommen. Einmal pro Woche unterrichte ich für drei Stunden im Integrationszentrum »Phönix«. Dort sind die Kurse kostenlos. Entsprechend groß ist der Andrang. Es gibt viele Interessenten, aber die verfügbaren Räume und meine Zeit sind eingeschränkt. Ich kann das ja nur machen, wenn ich meinen Laden schließe. Also sind die Gruppen dort ziemlich groß, 14 bis 15 Leute. Wir haben nur acht PCs, aber viele bringen die eigenen Laptops mit.
Hier im Laden habe ich in einem Nebenraum sechs Arbeitsplätze für meine Privatschüler eingerichtet. Das sind Leute, die bereits einen Job haben oder einen suchen. Sie haben begriffen, dass heutzutage fast jeder Beruf Computerkenntnisse erfordert. Also investieren sie in ihre Bildung. Sie sind äußerst motiviert, selbstständig viel zu arbeiten, sodass der Unterricht sehr intensiv verläuft. Mir gefällt das. Ich habe erst vor drei Monaten damit angefangen. Zweimal die Woche zwei Stunden sind optimal, denke ich. Das Schwierigste bisher ist, eine Zeit zu finden, die allen Teilnehmern passt. Es muss entweder vor oder nach dem Öffnen des Ladens sein oder am Wochenende.
Um 18.30 Uhr mache ich zu, samstags schon um 15 Uhr. Ich muss aber noch die Buchhaltung und den sonstigen Papierkram erledigen. Danach fahre ich nach Hause und beschäftige mich mit meinem jüngeren Sohn. Er ist zwölf Jahre alt. Sein Bruder ist 24 und lebt in Moskau. Er hat dort studiert und einen guten Job gefunden.
Wenn das Wetter schön ist, gehen wir hinaus in die Natur, spazieren. Wir haben schon die ganze Umgebung von Köln kennengelernt. Diese Ausflüge und das Reisen sind für mich das Schönste im Leben. Ich gehe auch oft in die Sauna. Hier gibt es leider keine echt russische. Ich liebe dieses Ritual, mein Körper lechzt danach. Das hilft mir, gesund zu bleiben, lässt mich alle schweren Gedanken für eine Weile vergessen.
Auch der Jazz. Ich gehe zu den Konzerten im »Ignis«, dem osteuropäischen Kulturzentrum in unserer Stadt. Manchmal auch ins »Papa Joe«: Das ist der älteste Kölner Club, in dem es jeden Abend Jazz live gibt. Und ich gucke gern russische Filme. Die kann man sich heutzutage aus dem Internet herunterladen, auch alte, klassische Streifen. Früher gab es diese Möglichkeiten nicht. Heute besitzt so gut wie jeder Hunderte von Filmen, und wir tauschen. Ich habe einen sehr netten Freundeskreis. Natürlich, es sind vor allem Russischsprachige. Das ist in meiner Altersgruppe fast immer so. Nur die ganz Jungen, die haben hier perfekt Deutsch gelernt und haben viele deutsche Freunde. Ein paar einheimische Bekannte habe ich hier zwar, aber die sprechen in der Regel auch Russisch.
Wir sind in Russland natürlich atheistisch erzogen worden, umso mehr, als nur mein Vater Jude war. Meine Schwestern, die in Israel leben, schicken mir Postkarten zu allen Festen, sodass ich die Feiertage kenne. Aber ich halte sie selbst nicht ein, und am Schabbat muss ich ja leider arbeiten. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber Arbeit ist Arbeit, und ohne die überleben wir nicht. Andererseits bin ich stolz auf meine jüdische Herkunft. Das Gefühl habe ich, seit ich zum ersten Mal Israel besucht habe – es ist lange her, schon zehn Jahre. In Russland schämte ich mich – wie die meisten anderen auch – jüdisch zu sein. Aber in Israel ist »Jude« ein stolzes Wort.
Sonntags spiele ich Tennis bei Makkabi. Danach gehen wir meine Eltern besuchen. Meine ganze Familie lebt hier, aber die Verwandtschaft meiner Frau ist in Moskau geblieben. Das ist für sie sehr traurig, und sie hat großes Heimweh. Wir besuchen also meine Eltern unbedingt einmal die Woche, manchmal auch öfter. Sie sind nicht weit entfernt, das ist bequem.
Dieses Wochenende habe ich aber etwas anderes vor: Wir wollen zum Angeln ausfahren. Ich selbst bin kein Angler, aber meine Freunde tun dies leidenschaftlich gern. In Deutschland allerdings dürfen wir nicht angeln, dafür braucht man einen Schein. In den Niederlanden geht es auch ohne, wir haben es schon ein paar Mal versucht. Aber wir haben nichts gefangen. Wir kennen die richtigen Plätze nicht, das ist das Problem. Die echten Angler hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse, würden ihre Lieblingsorte niemals preisgeben. Auch das Internet ist voller Anglerforen, aber keiner sagt etwas Konkretes. Sie empfehlen zum Beispiel Roermond, die Maas. Aber in welcher der vielen kleinen Buchten beißt was an? Das würden sie nie verraten. Aber wer weiß, vielleicht schaffen wir es an diesem Wochenende, den ganz großen Fisch zu fangen.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda