von Wladimir Struminski
Nissim macht eine abwehrende Geste. Auf einmal sitzt er auf dem Polstersofa im Wohnzimmer der Tel Aviver Verwandtschaft nicht mehr so bequem. »Ich, ein Flüchtling? Also…« Dwora fällt ihrem Mann ins Wort. »Ja. Du. Und ich. Und die Kinder. Was sind wir denn sonst? Meinst du, nur Libanesen können Flüchtlinge sein? Schau uns doch an. Wir schlafen schon seit zwei Wochen in einem fremden Haus. Also was sind wir genau?« Nissim seufzt und schweigt.
Wie Nissim geht es vielen Israelis: Daß sie selbst Kriegsflüchtlinge sind und daß ihr Land ein Flüchtlingsproblem hat, geht ihnen nur zögerlich auf. Das gilt auch für staatliche Stellen. Weder die Armee noch die Regierung hat sich die Mühe gemacht, die Zahl der Entwurzelten zu ermitteln. In den ersten Kriegstagen sprachen inoffizielle Schätzungen von mehreren Zehntausend Bürgern, die den Norden des Landes verlassen hätten. Heute dürfte es sich um eine sechsstellige Zahl handeln. In besonders gefährdeten Städten wie Kirjat Schmona oder Naharija melden die Stadtverwaltungen Abwesenheitsquoten von bis zu 90 Prozent.
Wer kann, kommt bei Familie und Freunden unter. Auch haben sich Zehntausende von israelischen Haushalten bereiterklärt, Fremde aufzunehmen. Kommunen, soziale Organisationen und religiöse Einrichtungen haben Vermittlungszentralen für Flüchtlinge eingerichtet. Zahlreiche Hotels bieten den »Zfonim«, also denen aus dem Norden, Vorzugskonditionen an. Wem das zu teuer ist, sucht andere Alternativen. Besucher des bei Jerusalem gelegenen Naherholungsgebiets Ein Hemed mußten dieser Tage feststellen, daß die Anlage ein Zeltlager für rund 1.000 Schulkinder aus dem Norden beherbergt. Die Betreiber von Freizeiteinrichtungen zeigen ebenfalls Entgegenkommen. Bewohner aller Ortschaften von Haifa nordwärts entrichten zum Beispiel an der Kasse des Safari-Zoos in Ramat Gan nur 25 Schekel (4,50 Euro) statt des regulären Eintrittspreises von 48 Schekel.
Die Welle der Hilfsbereitschaft kann die Not der Flüchtlinge allenfalls mildern, nicht aber aus der Welt schaffen. »Wie lange kann man mit drei Kindern im Wohnzimmer einer Dreizimmerwohnung bleiben, auch wenn die Gastgeber noch so freundlich sind?«, klagen Nissim und Dwora. »Am Anfang war es ein schöner Familienbesuch. Nach zwei Wochen aber haben wir einander satt.« Nicht nur sie.
Und je länger der Krieg dauert, um so schwerwiegender werden auch die Existenzängste. Zwar hat die Regierung den Mitarbeitern kriegsbedingt geschlossener Betriebe Lohnausgleich zugesagt und zugleich die Entlassung »geflüchteter« Mitarbeiter untersagt. Doch droht vielen Unternehmen wegen des langanhaltenden Kon-
flikts die Schließung.
Dennoch werden die Raketenflüchtlinge nicht nur bemitleidet, sondern auch beneidet – und zwar von den Daheimgebliebenen. Anders als im Golfkrieg vor an-
derthalb Jahrzehnten sind es diesmal nämlich nicht die Standhaftesten, die sich nicht verjagen lassen, sondern vor allem die sozial Schwachen, Neueinwanderer, Alte und Kranke. Tausende von Familien haben weder Geld für Lebensmittel, noch jemanden, der ihnen hilft. Sie halten sich mit Hilfe der Stadtverwaltungen, Freiwilligen und Spenden mehr schlecht als recht über Wasser. Viele sind nicht jung oder nicht gesund genug, um bei Alarm in den Luftschutzkeller zu eilen. Sie warten schicksalsergeben ab und hoffen, daß auch die nächste Katjuscha an ihnen vorbeifliegt.
Der Fluchtdrang innerhalb des Landes ist allerdings nicht gleichmäßig verteilt. In den arabischen Ortschaften, in denen die Hälfte der Bevölkerung Galiläas zu Hause ist, ist so gut wie keine Absetzbewegung zu beobachten. Dies, obwohl unter den Raketentoten auch vier arabische Israelis zu beklagen sind. Für den Tel Aviver Sozialwissenschaftler Emanuel Marx sind dafür zwei Gründe ausschlaggebend: »Die israelischen Araber fühlen sich weniger bedroht als die Juden, weil die Hisbollah arabische Ortschaften nicht absichtlich an-
greift«, so Marx, ein führender Kenner der arabischen Minderheit. Zudem suchen Araber traditionell Rückhalt in der Großfamilie. Die individuelle Flucht würde dieser Norm widersprechen. Bei Bedarf gäbe es genug arabische Ortschaften, die Flüchtlinge aus dem Norden aufnehmen könnten. »Ich habe den Ortsratsvorsitzenden von Mrar (ein von Raketen getroffenes Dorf in Galiläa) angerufen und unsere Hilfe angeboten«, sagt der Bürgermeister der nordöstlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Umm Al-Fachem, Scheich Haschem Mahadschne. Allerdings, so betont der Scheich, habe Umm Al-Fachem keine Präferenz für Araber. Juden seien ebenso willkommen: »Wir bieten unsere Gastfreundschaft jedermann.«