Am vergangenen Schabbat saß ich wie immer in der Synagoge auf meinem Platz. Seit über 20 Jahren sitze ich dort. Ich könnte ihn mit verbundenen Augen finden: 14. Reihe, dritte Bank von links. Besucher, die sich auf meinen Platz setzen wollen, werden freundlichst weggescheucht: Das ist mein Platz, tut mir leid. Häufig habe ich mir schon überlegt, ein schönes Namensschildchen anzubringen. Aber das ist nicht wirklich nötig. Wenn ich etwas später in die Synagoge komme, bewachen Synagogennachbarn meinen Platz.
Ich saß also letzten Schabbat wie gewohnt auf meinem Platz und machte es mir für ein kurzes Nickerchen gemütlich. Da spürte ich ein Klopfen. Ich versuchte es zu ignorieren und die Augen zu schließen, doch die Stöße wurden immer intensiver. Ich stand auf und blickte mich um. Da sah ich einen kleinen Jungen hinter mir sitzen. Er mochte vier oder fünf Jahre alt sein. Seine kleine Füßchen reichten nicht bis zum Boden. Darum schwang er mit seinen kleinen Beinchen wie auf einer Schaukel. Dabei stieß er mit seinen kleinen Schühchen ständig an meine Rücklehne: Bumm, bumm, bumm, bumm!
Eine neue Situation für mich. Ratlos lächelte ich seinen Vater an. Der jedoch stierte mich an und ich wusste: Papa würde für die Schaukelfreiheit seines Bübchen kämpfen. Ich setzte mich also wieder hin und versuchte, im Siddur zu beten, an Schlafen war nicht mehr zu denken. Aber das verdammte Hämmern des Jungen störte mich in meiner Konzentration. Ich versuchte, mich leidvoll zu räuspern. Doch nichts geschah. Jetzt trat der Junge sogar mit beiden Füßchen. Irgendwann musste er doch schlappmachen, machte ich mir Hoffnung. Aber das war ein frommer Wunsch.
Ich fühlte mich machtlos. Ein Dreikäsehoch versaute mir tatsächlich den Gottesdienst. Seinen Vater, einen kräftigen Israeli, schien das nicht zu kümmern. Ich be- gann, mich zu hassen. Warum bin ich nur so ein elender Feigling? Eine Stunde lang ging das so weiter. Ich hatte längst den Faden verloren, wusste nicht mehr, auf welcher Seite im Siddur wir gerade waren. Da ging ich raus. Wie gern hätte ich draußen eine Zigarette geraucht. Aber es war ja Schabbat! Außerdem bin ich Nichtraucher. Ich fluchte still vor mich hin. Ich wusste: Lange werde ich das nicht mehr aushalten. Und dann brülle ich den Jungen an, worauf mir sein Vater eine runterhaut. Ich werde hinfallen und meine Frau oben wird schreien. Alle Leute würden über mich reden: »Und der ist Grundschullehrer?« Der Rektor wird mich dann am Montag in sein Büro zitieren ... Oh weh!
Dann ist mir plötzlich etwas eingefallen! Ich ging wieder auf meinen Platz und tat so, als würden mir die Fußtritte wie eine Massage vorkommen. Ich lächelte. Der Gottesdienst war fertig und alle strömten zum Kiddusch. Jetzt stand ich hinter dem Vater und seinem Jungen. Ich ließ meinen Kidduschbecher schön unabsichtlich auf das weiße Hemd des Jungen fallen. Dann stellte ich mich auf die Seite und genoss die Schimpftirade der israelischen Mutter auf den verdutzten Jungen und dessen Vater. Ich kann eigentlich kein Hebräisch. Aber an diesem Schabbat verstand ich alles. Ah, wie das gut tat! Rache kann so traubensaftsüß sein! Beni Frenkel
Glosse