von Manuela Pfohl
Kaum hat Michael Bondar den Hörer aufgelegt, klingelt das Telefon schon wieder. Der 51jährige ist von Beruf Fechttrainer. Und zwar nicht irgendeiner, sondern der beste, den es in Rostock gibt. Ein Vollzeitjob, bei dem wenig zu verdienen, aber viel zu tun ist. »Wenn mich einer braucht, muß ich da sein«, entschuldigt sich Bondar für das Dauerklingeln. Seine Frau Antonida sieht es anders. »Schluß jetzt. Du arbeitest zu viel«, schimpft sie, schüttelt den Kopf, stellt die Kaffeetassen auf den Küchentisch und nimmt das Telefon kurzerhand mit nach draußen. »Sie meint es nicht so«, versichert ihr Mann augenzwinkernd.
Vor zehn Jahren kamen er, Antonida und die beiden Söhne als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa nach Deutschland. »Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als der Betreuer im Auffanglager Schlagbrügge uns sagte, daß wir nach Rostock ziehen werden und daß es eine große Hafenstadt an der Ostsee ist. Ich dachte, das ist ein bißchen wie zu Hause.«
Michael Bondar lebt gern in Rostock. Hier hat er den Sportverein Makkabi aufgebaut und für die ersten viel beachteten Erfolge jüdischer Sportler aus dem Nordosten Deutschlands gesorgt. Seit er sich vor einem Jahr als Fechttrainer selbständig machte, hat er alle Hände voll zu tun. Mehr als 60 Schüler kommen inzwischen zu seinem Unterricht. Juden, Christen, Muslime, Deutsche, Russen, Vietnamesen, Türken. Die meisten haben wenig Geld und einen Sack voller Probleme. Viele Eltern sind arbeitslos, manche verzweifelt und voller Zukunftsangst. »Wenn ich das merke, sage ich ihnen, schaut mich an. Ich bin ohne irgend etwas nach Rostock gekommen und habe es geschafft. Dann schafft ihr es auch.« Optimismus und Vertrauen in die Zukunft sollen die Kinder stark machen. Doch wer weiß schon, wie oft ihr Vorbild zurückdenkt an die alte Heimat Odessa, seine große unglückliche Liebe.
Fünfmal war Michael Bondar sowjetischer Fechtmeister. Beim Weltcup Anfang der 70er Jahre belegte er in Moskau zweimal den dritten Platz. Er wurde »Meister des Sports der UdSSR« und trainierte an der berühmten Sportschule von Odessa den Olympianachwuchs des Landes. Ein gefeierter Held. »Und trotzdem durfte ich kein einziges Mal zu Wettkämpfen ins Ausland fahren. ›Für Juden nicht erlaubt‹, hieß es immer.«
Michael Bondar schiebt mit jähem Ruck eine Falte aus dem Tischtuch, verschränkt die Arme und zeigt aus dem Fenster. Da drüben im Nebenaufgang wohne ein Deutscher, sagt er. Ein alter Seemann, der oft in Odessa an Land gegangen sei. Mit ihm unterhält er sich manchmal über die alten Zeiten. »,Michael‹, sagt er dann zu mir, ›sei froh, daß du weg bist, die haben dich doch total beschissen.‹ Und ich sage: ›Ich weiß, aber ich liebe meine Heimat trotzdem.‹«
Anderen in der Rostocker jüdischen Gemeinde gehe es ähnlich, sagt Bondar. Fast alle der rund 700 Mitglieder kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die meisten wären gern zu Hause geblieben, aber die Umstände haben es nicht zugelassen.
»Mitten in der Perestroika hatte ich die Leitung der Sportschule von Odessa übernommen. Ich war für 25 Lehrer und 300 Schüler verantwortlich.« Der ehrgeizige Fechtprofi will sie zu Höchstleistungen bringen. Doch bald wird klar, daß die real existierende Marktwirtschaft andere Prioritäten setzt. »Es ging immer nur darum, daß es sich rechnen muß. Aber genau das tat es nicht.« Mitte der Neunziger bekommt Michael Bondar als Schulleiter nur noch die Finanzierung für zwei Trainer und muß mit ansehen, wie alles, was er aufgebaut hat, langsam den Bach hinuntergeht. Er selbst kann seine Familie kaum noch über Wasser halten und spürt die politische Radikalisierung seines Landes, die das Leben schwer und die Menschen unsicher macht. »Da wußte ich, ich muß mir etwas anderes suchen.« Die Bondars nutzen ihre Möglichkeit auszureisen und ganz neu anzufangen. Es ist ein Abschied mit Wehmut und ein Anfang mit vielen Fragen.
»Ich wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kirowograd im Osten der Ukraine geboren. Bei uns im Ort lebten mehrheitlich Juden, und die Einhaltung der religiösen Vorschriften war damals eine Selbstverständlichkeit. Auch mein Vater und die Großmutter achteten darauf.« Doch seine Mutter sei eine praktische Frau gewesen. Damit ihr Sohn keine Probleme bekomme, lehnte sie die Beschneidung grundsätzlich ab. »Als wir dann 1961 nach Odessa zogen und meine Einschulung anstand, sorgte meine Mutter schließlich auch noch dafür, daß Vaters Bruder meinen Geburtsnamen Moische in den Papieren heimlich in Michael umwandelte.« Das klang solide russisch und sollte dem Sohn eine vorurteilsfreie Zukunft sichern. Tatsächlich wird der Junge bei den Pionieren groß, will sein wie alle anderen und hofft inständig, daß keiner seiner Mitschüler merkt, daß er Jude ist. »Mit 21 Jahren habe ich das erste Mal eine Synagoge besucht. Aber ehrlich, es hat mich nicht besonders beeindruckt«, gesteht Bondar und schaut tief in seine Kaffeetasse, als könne er auf dem Grund die Worte finden, die ihm im Moment fehlen. »Vielleicht«, sagt er dann, »braucht alles im Leben seine Zeit. Und damals waren wir eben Kinder des Sozialismus.«
Als er viele Jahre später in Rostock in einer leeren Wohnung steht und nicht weiß, womit er anfangen und wie alles enden soll, faßt er sich ein Herz und geht zur jüdischen Gemeinde. »Ich habe gesagt, ich bin neu hier und brauche jemanden, der mir hilft, Fuß zu fassen.« Die Reaktionen überraschen ihn. Keiner fordert ein Bekenntnis von ihm. »Alle waren sehr freundlich, gaben Tips, wo man was beantragen kann und welche Unterstützung uns zusteht. Es ging vor allem um die ganz praktische Frage, wie wir es schaffen, unser neues Leben zu organisieren.«
Sechs Monate lang haben die Bondars keine ruhige Minute. Die Wohnung muß eingerichtet werden, Sohn Alexander, damals 15 Jahre alt, muß lernen, sich in der Schule zurechtzufinden. Immer wieder sind auch Behördengänge notwendig. Ausnahmezustand. »Erst als alles fertig war und wir langsam zur Besinnung kamen, wurde mir klar, daß ein neues Leben für uns begonnen hatte.« Ihm wurde bewußt, daß er ohne Job dastand, kaum jemanden kannte in der fremden Stadt und auch keine Vorstellung hatte, was die Zukunft bringen würde. »In dem Moment spürte ich das erste Mal Heimweh.«
1998 bekommt Michael Bondar eine Festanstellung als Trainer beim Rostocker Polizeisportverein. Es geht langsam aufwärts, soziale Kontakte werden geknüpft und der Kampf mit der deutschen Sprache ist fast gewonnen. Drei Jahre später fährt die Familie das erste Mal in die Ukraine, um Verwandte zu besuchen. »Ich fühlte mich auf der Stelle wieder wie ein Fisch im Wasser. Leicht und sicher.« Als die Reporter in Odessa fragen, ob er nicht wieder zurückkommen wolle, ist die Versuchung groß, einfach ja zu sagen. »Aber dann siegte die Vernunft«, sagt Michael Bondar. In seinem Alter mache man keine Experimente mehr.
Das klingt ein bißchen traurig, aber auch entschlossen. Einfach aufgeben wolle und könne er nicht mehr. Seine Söhne leben in Deutschland und auch sein Bruder Valeri. Die drei Enkel würden den Großvater furchtbar vermissen. »Und schließlich trage ich ja auch Verantwortung für die Sportschüler, die mir vertrauen.« Was sollten die von ihm halten, wenn er einfach davonliefe.
»Ich will nicht stören«, schaltet sich Antonida in das Gespräch ein. Sie steht plötzlich in der Küchentür. »Denkst du an den Termin mit dem Gemeindevorsitzenden?« Bondar schaut auf die Uhr. »Die Pflicht ruft«, sagt er, haut mit den Fäusten auf den Tisch, daß die Kaffeetassen wackeln, und steht auf.