zuwanderer

»Ich bin noch am Anfang des Weges«

von Annette Wollenhaupt

Hana Grynberg hat Pfefferminztee gekocht. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, auf dem Kopf einen hellen Strohhut. Die 31jährige ist verheiratet und lebt orthodox. Dazu gehört auch, das Haar zu bedecken. Mit Hut oder Perücke. Hanas 9jähriger Sohn David ist in der Schule, Tochter Lea, drei Jahre alt, im Kindergarten. »Sie haben beide einen sehr starken Charakter, vielleicht ist er sogar stärker als der von uns Eltern.« Ob sie und ihr Mann die Kinder denn sehr frei erzögen? Hana Grynberg schüttelt den Kopf. Nein, antiautoritär sei ihre Art der Erziehung nicht. Jüdische Gesetze zum Beispiel spielten eine große Rolle. Gesetze wie jenes, daß man die Eltern ehren solle. Zum ganz normalen Alltag der jungen Familie gehöre es auch, Gott vor dem Essen zu danken. »Viele Kinder denken heute, daß alles selbstverständlich ist, und wenn sie bestimmte Dinge nicht bekommen, sind sie wütend!«
Wie jüdisch war Hanas eigene Kindheit? »Ich erinnere mich, daß ich meine Mutter einmal nach wichtigen Gegenständen im Leben frommer Juden fragte. Sie habe alles weggeworfen, war die Antwort.« Als Hana Kind war, gab es in Dnjepropetrowsk wieder eine jüdische Schule und einen Kindergarten – und auch eine Synagoge. Die war zwischenzeitlich mal zu einem Warenlager und mal zu einer Fabrik umfunktioniert worden. »Ich habe sie nie besucht«, sagt Hana, »da war noch immer diese Angst in mir.« Und als sie dann keine Angst mehr hatte, war ihr das Gebäude egal. »Damals hätte ich einen orthodoxen jungen Mann mit seiner Kopfbedeckung komisch gefunden.« Als Kind war Hana bei den Leninpionieren und trug das obligatorische rote Halstuch. »Wir sollten besser sein als die anderen, sollten gute Leistungen bringen. Wir kannten doch nichts anderes, es war unsere einzige Welt.«
Mit gemischten Gefühlen erinnert sich Hana an ihre Schulzeit. Es habe Sticheleien gegeben gegen sie, die Jüdin, erzählt sie. »Kinder sagen eben alles, was sie denken.« Zu Anfang eines jeden Schuljahres mußte jeder Schüler vor die Klasse treten und die Herkunft seiner Familie nennen. Die wurde ins Klassenbuch eingetragen. »Wir hatten das Gefühl, Jude zu sein, sei etwas Schlechtes. Es war wie ein Fleck, den man nicht wegmachen konnte.«
Als die Sowjetunion Anfang der 90er Jahre zerbrach, geriet Hanas Welt zusätzlich ins Wanken. Was man zuvor gutgeheißen hatte, wurde nun öffentlich verurteilt. Daß sich von heute auf morgen alles umkehrte, sei für die Menschen in der Ukraine sehr schwierig gewesen, sagt Hana. Auch für sie. Es mache sie wütend und traurig, sagt sie, wenn etwa der Kosakenhetman Bogdan Chmelnizki, der im 17. Jahrhundert Zehntausende Juden töten ließ, heutzutage wieder salonfähig ist, ja mehr noch: sein Porträt in der Ukraine sogar Geldscheine schmückt.
Ende der 90er Jahre trieben Hanas Eltern die Ausreise der Familie voran. Mit der Übersiedlung nach Deutschland vor fünf Jahren begann sich Hanas Leben entscheidend zu verändern. Zunächst lebte sie in einer Unterkunft für Asylsuchende in Friedberg. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn bewohnte sie ein Zimmer. Geschlafen wurde in Eisenbetten. »Ich kann es als schlechte Erfahrung nehmen, ich kann es als gute Erfahrung nehmen«, sagt Hana. In der Ukraine jedenfalls habe sie in noch beengteren Verhältnissen gelebt. Sie zeigt Fotos aus ihrer Zeit in Friedberg. Blicke hinaus aus dem Fenster. Auf Militärautos und Tankfahrzeuge der US-Streitkräfte. »Es hat mich nicht sehr gestört«, sagt sie. Es waren dort viele Familien in der gleichen Situation wie sie, Juden aus Rußland. »Wir haben bis heute Kontakt.«
Halt gaben Hana Grynberg neben einigen sehr intensiven menschlichen Begegnungen und der Hilfe seitens der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die der jungen Familie schließlich eine gemeindeeigene Wohnung mitten in der Stadt vermittelte, die Texte von Rav Gitik. Hana hörte seine Kassetten. »Es sind interessante Texte«, sagt sie, »gute Texte für Leute mit Intelligenz. Sie haben viel mit klassischer und phantastischer russischer Literatur zu tun und öffnen ganz langsam und sachte die Tür zum Judentum.« Diese Texte zu studieren, sei für sie ein Schlüsselerlebnis gewesen. »Sie haben mir vermittelt, daß jüdisch sein eine Art zu leben ist und ein Schatz.«
Groß war der Hunger nach jenen Informationen, die Hana Grynberg solange verborgen geblieben waren. Heute trifft sie sich im jüdischen Gemeindezentrum regelmäßig mit anderen russischsprachigen Jüdinnen, um über einen Abschnitt aus der Tora zu sprechen. Ein »I love Tora«-Sticker klebt auf dem Schränkchen neben ihrem Schreibtisch. Ein pralles rotes Herz steht für das Wort »lieben«. Hana Grynberg kann etwas, was viele Erwachsene verlernt haben: Sie kann staunen wie ein Kind. Nur, daß bei ihr die Fähigkeit zur Reflexion auf hohem Niveau dazukommt.
Neben Hanas aufgeklapptem Laptop steht eine ganze Riege von Cremetiegeln und Nagellackfläschchen. Die 31jährige hat sich als Kosmetikerin selbständig gemacht. Früher war sie Journalistin. Nach dem Studium in Dnjepropetrowsk arbeitete sie als freie Autorin für Zeitungen und fürs Radio. Sie schrieb über soziale Themen, über das Verhältnis von Mutter und Kind. »Es ist kompliziert, in diesem Beruf eine feste Stelle zu bekommen, wenn man die Feiertage des Judentums einhalten möchte«, sagt sie. Ihre Diplomarbeit schrieb sie zum Thema »Zeitungen und andere Printmedien für Kinder in der Ukraine«. Sie träumt davon, eine Literaturzeitung für russischsprachige Zuwanderer herauszugeben. Jüdisch geprägt müßten die Inhalte dabei keinesfalls sein. Was Hana Grynberg auch reizen würde, ist eine Zeitung für jüdische Kinder, mit einem russischen und einem deutschen Teil. Eine Gesellschaft solle ihre Kinder ernst nehmen, fordert Hana: »Sie sind nicht dümmer als wir Erwachsenen. Alles was mit Emotionen und Beziehungsmodellen zwischen uns Menschen zu tun hat, dafür haben Kinder ein sehr gutes Gespür!«
Auch wenn Hana Grynberg früher in einem ganz anderen Bereich gearbeitet hat, schätzt sie ihre Tätigkeit als Kosmetikerin nicht gering. Ganz im Gegenteil. »Frauen schönzumachen, macht mir Spaß. Sie freuen sich dann immer so.«
Seit kurzem leitet Hana eine Frauengruppe, die von ihrer Konzeption her so lebendig und vielseitig ist wie Hana selbst. Ob Judentum, Kosmetiktips, Erziehung, Rechtsratschläge oder Infos zu Sportangeboten für Frauen – bei den Treffen kommen all jene sehr praxisnahen Themen zur Sprache, die im Alltag russischstämmiger Jüdinnen von Bedeutung sind.
In Israel war Hana Grynberg noch nie. »Ich bin noch am Anfang des Weges zum Judentum und zu den Menschen«, sagt sie. Am Judentum sage ihr ganz besonders die große Lebensnähe, der Pragmatismus zu. »Bei uns ist alles geregelt, die geistigen aber auch die ganz praktischen Dinge.« Das »Rhythmushafte« der jüdischen Feiertage zum Beispiel gefalle auch ihren Kindern. »Lea weiß schon, wenn wir Kerzen anzünden, kommt Schabbes.« Es macht ihnen Freude, gemeinsam in der kleinen gemütlichen Küche den Teig für die Challe zu kneten. »Das fördert schließlich ganz nebenbei auch noch die Feinmotorik«, scherzt Hana.
Am Ende des Gesprächs erzählt sie von einer Frau, die mit ihr an einem Kurs für Frauen, die sich selbständig machen möchten, teilgenommen hat. Sie fragte Hana: »Bist du eine Aristokratin? Du trägst immer einen Hut.« Wieder ist da das Lachen, dieses verhaltene, das eigentlich eher ein Lächeln ist. Hana Grynberg verläßt für einen Moment die Küche. Nach einer Weile kehrt sie mit einigen Hüten zurück. Sie breitet die Kopfbedeckungen auf dem Küchentisch aus: einen breitkrempigen schwarzen, sehr eleganten Hut, eine blaue Schirmmütze, einen legeren Strohhut. Sie hat viele Hüte. Manchmal, wenn sie Lust hat, setzt sie statt dessen auch eine Perücke auf. »Ich mag es, unterschiedlich zu sein.«

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