Herr Ministerpräsident, Israel feiert im Mai sein 60-jähriges Bestehen. Was kann man einem solch jungen Staat wünschen?
rüttgers: Ich wünsche Israel die notwendige Gelassenheit, die man hat, wenn man noch jung ist und dennoch bereits auf eine über 3000-jährige Geschichte zurückblicken kann.
Nennen Sie uns doch bitte mal drei Dinge, die Ihnen an Israel gefallen.
rüttgers: Erstens: das Land. Zweitens: die Menschen. Drittens: die Geschichte.
Und was missfällt Ihnen?
rüttgers: Dass es um Israel herum immer noch Krieg gibt.
Das liegt doch nicht an Israel, oder?
rüttgers: Denken Sie an die Mauer. Die durchschneidet den jüdischen Staat und Palästina. Insofern haben diese tragischen Konflikte auch etwas mit Israel zu tun. Und sie prägt das Leben unter den Menschen.
Ist es so unverständlich, dass sich Israel mit einer Sperranlage gegen terroristische Angriffe schützen will?
rüttgers: Das Motiv kann und muss man verstehen. Die Frage jedoch lautet: Ist Frieden nicht erst dann möglich, wenn man sich die Hände über Grenzen hinweg reicht?
Aber die Hamas will Israel vernichten. Kann man von demjenigen, der bedroht wird, wirklich erwarten, dass er als erster die Hand reicht?
rüttgers: Wenn derjenige, der bedroht wird, das nicht versucht, dann geht dieser unselige Krieg immer weiter. Der Dialog ist notwendiger denn je. Die Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit zeigt doch, dass die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas ganz neue Perspektiven eröffnet haben. Ein Beispiel: Heute denkt die offizielle Politik in Israel laut darüber nach, Ost-Jerusalem in die Debatte um die Hauptstadt eines künftigen Palästinenserstaates einzubeziehen. Vor ein paar Jahren wäre ein solcher Gedanke noch unvorstellbar gewesen. Das ist ein Fortschritt.
Viele Israelis sind gegen solche Pläne. Kann Premier Ehud Olmert so weitreichende Schritte überhaupt durchsetzen?
rüttgers: Natürlich muss über so etwas Gravierendes diskutiert und gestritten werden. Aber dass darüber gesprochen wird, macht doch deutlich: Es geht in die richtige Richtung. Und das finde ich ermutigend, und zwar für den ganzen Nahen Osten.
In den Köpfen tut sich etwas?
rüttgers: Das glaube ich schon. Wenn ich Israel besuche, stelle ich fest: Die Anzahl derjenigen, die nicht glauben, dass das Land immer im Konflikt mit seinen Nachbarn leben sollte und leben kann, steigt erheblich. Das gilt vor allem für junge Menschen.
Bisher beschränkt sich das Handreichen der Machthaber in Gasa darauf, Raketen gen Israel abzufeuern. Was muss die Hamas für ein halbwegs gedeihliches Nebeneinander tun?
rüttgers: Voraussetzung für Frieden ist, dass alle Seiten der Gewalt abschwören. Selbstverständlich muss das Existenzrecht Israels von allen und uneingeschränkt anerkannt werden. Selbstverständlich hat das Land Anspruch auf gesicherte Grenzen. Selbstverständlich muss es möglich sein, Feindschaft zu überwinden. Das heißt, gegen die Übergriffe aus dem Gasastreifen müssen die verantwortlichen Palästinenser sofort einschreiten und diese unterbinden. Auch die verschleppten israelischen Soldaten müssen freikommen. So dramatisch sie ist, bietet die gegenwärtige Situation aber auch Chancen, die genutzt werden müssen. Dazu bedarf es einer Europäischen Union, die aktiv den Friedensprozess in Nahost begleitet.
Inwiefern?
rüttgers: Ich bin schon lange dafür, dass Israel durch den Status einer privilegierten Partnerschaft in die EU miteingebunden werden sollte. Das soll nicht die Garantien der USA für Israel ersetzen. Aber eine solche privilegierte Partnerschaft könnte dem Staat wirtschaftlich, kulturell und forschungspolitisch eine bessere Zukunft ermöglichen. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Prosperität Israels kann sehr zur Stabilität der Gesamtregion beitragen.
In der EU ist ein solches Angebot ziemlich umstritten.
rüttgers: Ich weiß sehr wohl, dass einige Länder nicht ein solch freundschaftliches Verhältnis zu Israel pflegen, wie das Deutschland tut. Dennoch ist eine privilegierte Partnerschaft der richtige Weg. Ein Beispiel: Als ich in den 90er-Jahren Bundesforschungsminister war, habe ich dazu beige- tragen, dass Israel Mitglied der europäischen Forschungsprogramme wurde. Und das hat sich bewährt. Israel verfügt heute über eine stabile und wettbewerbsfähige Forschungslandschaft von internationalem Ruf.
Können Sie sich vorstellen, dass Israel einmal EU-Mitglied sein wird?
rüttgers: Ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zeit eine realistische Perspektive ist. Aber nochmals: Die EU kann Israels wirtschaftliche Prosperität stützen und fördern. Das macht ja ein gutes Stück der Stärke des Landes in der Region aus.
Heißt das auch, den Palästinensergebieten gleichermaßen unter die Arme zu greifen?
rüttgers: Ja. Nordrhein-Westfalen engagiert sich sehr stark, sowohl in Israel als auch in Palästina.
Deutschland fördert finanziell in großem Umfang die Palästinensergebiete. Doch bisher werden von den bereitgestellten Mitteln eher Waffen gekauft als Straßen und Schulen gebaut. Wie kann das in Zukunft vermieden werden?
rüttgers: Auch wenn es in der Vergangenheit schon besser geworden ist – das Geld kommt offenbar nicht immer dort an, wo es hin soll und wo es für die Menschen gebraucht wird. Aber das hat einen einfachen Grund: Es mangelt in Palästina einfach noch an ausreichend starken und in allen Schichten der Bevölkerung akzeptierten rechtsstaatlichen Strukturen. Das ist ein wichtiger Grund für die größtenteils schlechte Lage dort.
Dafür wird gerne auch Israel verantwortlich gemacht. Der jüdische Staat gilt auch in Deutschland vielen als Aggressor und Kriegstreiber. Was kann man gegen das schlechte Image tun?
rüttgers: Die Bundesrepublik steht fest an der Seite Israels. Niemand darf hierzulande dessen Existenzrecht infrage stellen. Dennoch neigt man in Deutschland dazu, dem vermeintlich Schwächeren recht zu geben. Deshalb muss noch viel mehr über Israel und die Lage im Nahen Osten informiert werden. Damit müssen wir bei Kindern und Jugendlichen anfangen. Gerade der Jugendaustausch gehört dazu. Nordrhein-Westfalen hat ein Programm aufgelegt, das vorbildlich funktioniert. Zudem schicken wir seit Jahren Lehrer zur Fortbildung nach Yad Vashem. Die vielen Städtepartnerschaften darf man auch nicht vergessen. Da werden Brücken gebaut, von denen Israelis und Palästinenser ebenso wie wir in Deutschland profitieren können.
Gibt es noch andere Bereiche, in denen man die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel verstärken könnte?
rüttgers: Vor allem die Kultur eignet sich dafür. Auch die Zusammenarbeit der Hochschulen kann sicherlich noch ausgebaut werden. Wir haben hier schon seit vielen Jahren intensive Stipendiatenaustauschprogramme mit Israel, die wir 2007 auch mit den Palästinensischen Autonomiegebieten begonnen haben.
Trotz der zahlreichen Bemühungen ist nach Ansicht vieler das Verhältnis zwischen beiden Ländern alles andere als normal. Wird das so bleiben?
rüttgers: Das dürfen Sie eigentlich nicht einen Deutschen fragen. Wir haben als Deutsche eine historische Verantwortung und diese Verantwortung geben wir mit der historischen Erinnerung an die nächste Generation weiter. Der Verantwortung der Erinnerung darf sich niemand entziehen.
Ist Deutschlands Verhältnis zu Israel womöglich zu verkrampft?
rüttgers: Eindeutig nein.
Als über den Einsatz der Bundeswehr im Libanon diskutiert wurde, hieß es: Deutsche Soldaten an Israels Grenzen, das geht gar nicht.
rüttgers: Es ist doch gut, dass in Deutschland über diese Frage debattiert worden ist. Und sie wurde dann von Israel beantwortet: Ja, wir wollen deutsche Soldaten. Damit war die Diskussion zu Recht auch gleich beendet. Deutlich geworden ist: Deutschland nimmt – von Israel akzeptiert und respektiert – seine Verantwortung als Global Player wahr.
Das Gespräch führte Christian Böhme.