von Thomas Meyer
Was kann man noch über Jerusalem sagen, was nicht sowieso jeder besser weiß? Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf, nachdem mich die Redaktion bat, etwas über Jerusalem zu schreiben. Und auch »mein« Jerusalem unterscheidet sich wohl kaum von jenen Beschreibungen, die man in unzähligen Reiseführern und Erlebnisberichten nachlesen kann. Oder doch? Haben Sie schon davon gehört, dass hier vor wenigen Tagen die vierbändige Enzyklopädie Neue jüdische Zeit vorgestellt wurde? Und dass die zweite Auflage der nunmehr 22-bändigen Encyclopaedia Judaica gerade bei dem Jerusalemer Verlag Keter auf Hebräisch und in englischer Sprache bei Thomson Gale/Macmillan (Detroit) erschienen ist? Nicht? Kann doch nicht sein! Wo doch fast jeder darüber spricht. Nun gut, zumindest im »Allgemeinen Lesesaal« der Nationalbibliothek. Aber der Reihe nach.
Wer nach Jerusalem kommt, um zu studieren und zu forschen, der benötigt als Erstes einen festen Platz. Und schon bilden sich Fraktionen. Die einen bevorzugen das luxuriöse, klimatisierte Ambiente des liberalen Think Tanks »The Van Leer Jerusalem Institute«, direkt neben dem Präsidentenpalast. Ein Geheimtipp ist die kleine, aber feine Niederlassung des Leo Baeck Institute, die eine schöne Spezialbibliothek beherbergt. Verführerisch wäre es natürlich, gegenüber dem Sitz des Ministerpräsidenten, in dem von Erich Mendelsohn gebauten Bauhaus-Edelstein der Schocken-Familie zu arbeiten, doch das dort befindliche Archiv ist nicht öffentlich zugänglich. Seit dem 20. April geschlossen ist auch das Café Atara, einer seit 1938 bestehenden Institution. Freilich in den letzten Jahren weit davon entfernt, den alten Charme zu entfalten, sah man kaum noch Studenten. Nahezu als Einziger ließ sich unser Freund Itamar dort noch blicken, immer in der Hoffnung, die geliebten ungarischen Kuchen aus früheren Zeiten würden doch noch einmal in den Glasvitrinen stehen. Also muss man mehr oder weniger an die Ränder der Stadt, will man nicht mit seinem Laptop in eines der auch hier wie Pilze aus den Boden schießenden Coffeeshops gehen, um letztlich doch nur über den Sonnenbrillenrand nach der Nachbarin zu schielen.
Die wichtigsten Orte für Forscher aber sind selbstverständlich die beiden großen Bibliotheken. Da sind einmal die Räumlichkeiten der im Osten gelegenen Hebräischen Universität. Zusammen mit dem berühmten Hadassah-Krankenhaus befindet sie sich auf dem Berg Har Hatzofim, was so viel wie »Aussicht« bedeutet. Wer erst einmal verstanden hat, was die Architekten sich möglicherweise dachten, als sie die farbigen Labyrinthe anlegten, der hat mitten auf dem Mount Scopus eine Vorstellung von der Lebendigkeit Jerusalems.
Wer ruhebedürftiger ist, der geht in die Nationalbibliothek in Givat Ram. Dass hier über fünf Millionen Bücher in riesigen Kellerräumen gelagert sind, sich die Papiere Albert Einsteins und Walter Benjamins, Martin Bubers, Gershom Scholems und des Literaturnobelpreisträgers Shmuel Yosef Agnon befinden, wird kaum jemand vermuten. Der Bau selbst ist, abgesehen von dem 1984 eingesetzten monumentalen Glasfenster von Mordechai Ardon, wenig spektakulär. Leider offenbart er ständig erhebliche Baumängel, so dass es hier aus der Decke tropft, dort die Fenster undicht sind und sowieso zu wenig Personal da ist. Aber was macht das schon, wenn man das kleine Archiv betritt, wo man deutsch-jüdische Geistesgeschichte studieren kann wie an keinem anderen Ort der Welt. Wenn man mit dem am Eingang sitzenden Schlomo die Fußballergebnisse analysiert, den besten Milchkaffee der Stadt trinkt und die Zeit von 9 bis 19 Uhr problemlos mit Gesprächen verbracht hat, dann ist man längst Teil einer verschworenen Gruppe von in jeder Hinsicht hart arbeitenden Forschern, deren augenzwinkerndes »Ich bin dann mal in Givat Ram« eine stehende Redewendung ist.
Wer also seinen Platz gefunden hat, der wird ihn immer zu verteidigen suchen. Schließlich verlassen sich die anderen darauf, dass man dort zu finden ist. Das Handy ist für die wichtigen Dates reserviert, die sich nicht automatisch ergeben. Andererseits gilt der Kampf aller Bibliothekarinnen und Aufsichtspersonen diesen piepsenden und ratternden »dritten Ohren«. Was wäre man in Israel ohne Handy?
Beinahe hätte ich die vollmundig vorgestellten Enzyklopädien vergessen! Sie verkörpern zwei ganz unterschiedliche Ansprüche. Die unter dem Titel Neue jüdische Zeit zusammengefassten Beiträge wollen einen umfassenden Einblick in Geschichte und Leistungen des säkularen Judentums geben. Unter der Leitung des Jerusalemer Philosophen Yirmiyahu Yovel stellen die führenden israelischen Intellektuellen mal historisch, mal systematisch die Fragen der jüdischen Kultur vor. Ende des Jahres soll eine englische Version vorliegen. Traditioneller ist da die zweite Auflage der Encyclopaedia Judaica, die auf 18.015 Seiten das Wissen über das Judentum darstellen will und gegenüber ihrer 1971 gestarteten Vorgängerin maßgeblich von jenen Leuten auf den neuesten Stand gebracht wurde, die im »Van Leer«, in der Hebräischen Universität oder auf Givat Ram sitzen.
Ob Jerusalem als »Wissenschaftsstandort« für geplante Karrieren interessant ist, ob sich die Institutionen in internationalen Rankings weit oben platzieren? Keine Ahnung! Man muss schon herkommen, um sich einen Eindruck zu verschaffen. »Jerusalem« klingt in vielen Ohren entweder zu langweilig oder zu aufregend. Dabei ist die quirlige, sich ständig in Umbrüchen befindliche Stadt auch jenseits der Tagesschau-Bilder eine beachtliche Mischung von Gegensätzen, die manchmal sogar überwunden werden. Ob ich gerne hier bin? Ja. Wer ein bisschen auf sich aufpasst, offen ist und Widersprüche aushält, der ist hier am richtigen Ort. Und Hand aufs Herz: Wer verrät schon so mir nichts, dir nichts seine Lieblingsplätze? In Jerusalem kenne ich jedenfalls eine Menge.
Der Autor ist Research Fellow am Rosenzweig Center in Jerusalem.