von Helmut Wanner
Die Schuhe eines Gemeindevorstehers sind sehr groß. Michael Russakovski hat dennoch beschlossen, in sie hineinzuschlüpfen. Und siehe – der 46jährige macht es gut. Seit Juli 2004 ist er gewählter Vertreter der »russischen Leute« im fünfköpfigen Führungsgremium der jüdischen Gemeinde in Regensburg.
Von den 450 Mitgliedern sind etwa 80 Prozent Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Zehn Jahre Integration brauchte es, bis die russischsprachige Mehrheit eine eigene Stimme im Vorstand der Gemeinde erhielt. Diese neue Stimme ist nicht geräuschvoll und aufdringlich. Michael Russakovski hat so gar nichts Triumphales an sich. Im Gegenteil, der erste gewählte Vertreter der russischsprachigen Gemeindemitglieder ist ein respektvoller, bescheidener Mensch. Mit offenem Gesicht steht er im Vorstandszimmer und hält ein Modell des Synagogen-Erweiterungsbaus hoch. Russakovskis Hände sind vor Aufregung ganz kalt. Die Ge- meinde, die ist jetzt auch sein Baby. Wie soll man es halten, daß es nicht zu Boden fällt? In der Stadt als das neue Gesicht der jüdischen Gemeinde zu gelten – wie fühlt sich das an? »Die Vorstellung macht mich etwas nervös.« Er müsse erst in die neue Rolle hineinwachsen, gesteht Russakovski.
Der Mitvierziger kommt aus dem Süden der ehemaligen Sowjetunion, aus Uralsk, einer Stadt in Kasachstan mit rund 230.000 Einwohnern. An Silvester 1995 moderierte er dort im Fernsehstudio noch eine Wirtschaftssendung. Zwei Tage später saß er bereits im Zug nach Deutschland.
Der 1960 geborene schmalgliedrige Mann mit französischem Schnurrbart ist kein Held, eher ein Tausendsassa. Er hat Mathematik studiert, war Lehrer, Musiker, Fernseh-Reporter und Kameramann. In Kasachstan moderierte er Jugendsendungen im staatlichen Fernsehen und recherchierte für Berichte über Wirtschaftskriminalität. Zweimal bezog er dabei Prügel von der Mafia.
Als Michael Russakovski 1996 mit seiner Mutter nach Regensburg kam, konnte er kein Deutsch. Mittlerweile spricht er es grammatikalisch perfekt. Nur wegen seines Akzents wird er öfter angesprochen. Man fragt ihn: »Kommen Sie aus Marseille?« Ja, er spricht auch Französisch.
Für einen Emigranten ist das Leben ständige Veränderung. Bei Michael Russakovski zeigt sich dies sogar im Vornamen. Die kasachischen Behörden gaben ihm den Namen Mikail. In Regensburg wurde er erst zum deutschen Michael und dann zu Mosche. Er war 36 Jahre alt, als ihn der Kantor in der Regensburger Synagoge mit diesem Namen erstmals zur Tora aufrief. »Ich hatte das Gefühl, in der Tiefe der Religion und der Gemeinde angekommen zu sein.« Seit er selber zur Tora gerufen werde, habe das Leben für ihn eine ganz neue Qualität. Er hat eine geistige Heimat.
Der feingliedrige Mann mit der behutsamen Art zu sprechen liest jeden Tag in der Tora. Zunächst noch in der russischen Übersetzung. Aber er lernt Hebräisch im Selbststudium. Sein Traum sei, endlich so viel Hebräisch zu können, daß er sie im Original lesen und richtig schmecken könne, sagt er. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist neben dem Auszug aus Ägypten eine seiner Lieblingsstellen. »Von der Zisterne stieg er auf bis in die Nähe des ägyptischen Throns. Da sehe ich: Es gab Zeiten, in denen es für einen Juden möglich war, ganz normal und sicher zu leben.«
Russakovski erlebte seine eigene Existenz bislang immer als prekär, als gefährdet. Für den Sohn einer Ärztin und eines früh verstorbenen Arbeiters ist die Begegnung mit dem Judentum wie eine Eroberung der bislang verbarrikadierten Quellen seiner eigenen Geschichte. In den späten 20er Jahren seien die jüdischen Zuflüsse der Sowjetunion von Stalin zugeschüttet worden, erzählt Russakovski. »Bis 1929 gab es noch eine jüdische Hochschule«, weiß er von seiner Großmutter. Die war Mathematikerin und sprach fließend Jiddisch. Russakovskis rüstige Mutter, die nächstes Jahr 80 wird und bei ihm lebt, beherrscht die Sprache noch etwas. Bei ihrem Sohn ist dieses Sprachgut versiegt.
Mit dem Deutschen tut sich die Mutter allerdings schwer. Wenn sie es hört, denkt sie an den Krieg. Sie lebte damals in Odessa, flüchtete aus der Stadt. Onkel, Tanten, ein großer Teil der Familie, neun Personen, verschwanden. Niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört.
Für seine Mutter und die vielen älteren Leute in der Gemeinde, die sich schwer tun, Deutsch zu lernen, übersetzt Michael Russakovski Berichte aus deutschen Zeitungen ins Russische und vervielfältigt sie. So entsteht alle zwei Wochen eine Zeitschrift: »Raduga«, auf Deutsch Regenbogen, heißt Russakovskis Regensburger Reader’s Digest. Richtschnur bei der Auswahl der Texte ist, was seine russischen Leute interessieren könnte. Als einer der Gemeindevorsteher sieht Michael Russakovski seine Aufgabe darin, sie zu informieren. »Informationen, Informationen, so viel wie nur irgendwie möglich«, sagt er beschwörend. Die russischsprachigen Gemeindemitglieder sehen zwar Satelliten-Fernsehen aus New York und Moskau, aber darin gibt es nur wenige Nachrichten über das, was viele von ihnen interessiert: das Zuwanderungsgesetz, medizinische Ratschläge, Ein-Euro-Jobs und die Auswirkungen von Hartz IV. Im jüngsten Heft läßt Russakovski Israels ehemaligen Oberrabbiner Israel Lau den Tagesablauf eines religiösen Juden schildern, vom Morgen- bis zum Abendgebet.
Michael Russakovski übersetzt auch trockene amtliche Bescheide und hilft so der Leiterin der Sozialstelle Dora Kuzenko. Er ist fast immer ansprechbar. Kein Tag vergeht, an dem er nicht mindestens zwei, drei Stunden im Gemeindehaus verbringt.
In den ersten Jahren nach seiner Auswanderung hatte Michael Russakovski für KirchMedia in Unterföhring Berichte für Sat1, Pro7 und N24 bearbeitet. Doch die dritte Entlassungswelle spülte auch ihn von der sinkenden Kirch-Titanic.
In den vergangenen Jahren ist Regensburg für den Junggesellen Russakovski zu einem neuen Zuhause geworden. »Als ich das erste Mal in der historischen Altstadt war, fühlte ich mich wie in einem Film über das Mittelalter. Ich hatte das ja schon im Fernsehen gesehen, diese engen Gassen, die gotische Architektur.« Manchmal sei er ganz ohne Ziel in der Stadt unterwegs, erzählt er. Dann läßt er die Schönheit und Ruhe auf sich wirken. Beim Spazierengehen kommen ihm die besten Gedanken. In Regensburg fühlt sich Michael Russakovski erstmals in seinem Leben wirklich sicher. »Kein Vergleich zu Uralsk.«