Yanna Mikhlina

»Ich bereue es nicht«

von Ralf Pasch

Bücherschränke sind Spiegel der Persönlichkeit. Im Wohnzimmerregal von Yanna Mikhlina stehen Gartenbücher neben Nachschlagewerken zur englischen Sprache und einem Wälzer Lineare Algebra. Die Single-Wohnung im Kasseler Stadtteil Rothenditmold ist bescheiden eingerichtet. Der Gast soll im plüschigen Sessel Platz nehmen. Sie selbst setzt sich auf einen grünen Gummiball. Das verleiht der 55jährigen etwas Jugendliches.
Vor 13 Jahren kam sie mit ihrem Sohn und ihren Eltern nach Deutschland – aus Charkow im Osten der Ukraine. Dort war sie Diplomingenieurin für Elektronik, 20 Jahre lang. Die Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut für Niederspannungsanlagen sei ein Traumjob gewesen, wie sie sagt. Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die »wunderbare schöpferische Arbeit« beendet. Der Hauptauftraggeber ihres Instituts wollte kein Geld mehr geben. »Ich mußte ein halbes Jahr ohne Gehalt auskommen.« Sie hielt sich mit Übersetzungen und Nachhilfeunterricht über Wasser.
Charkow, wo fast zwei Millionen Menschen leben, liegt zwischen Moskau und Kiew. »Es war die erste Hauptstadt der Ukraine«, betont Yanna nicht ohne Stolz. Zu Sowjet-Zeiten habe es dort kein öffentliches jüdisches Leben gegeben, obwohl viele Juden in der Stadt lebten. In der Synagoge trainierte damals ein Sportverein, auch Yanna hatte als Kind dort Tischtennis gespielt. Die Gottesdienste mußten in einem Wohnhaus abgehalten werden.
Yannas Vater hatte in den 20er Jahren eine jüdische Schule in der Nähe von Kiew besucht und dort auch Hebräisch und Jiddisch gelernt. Die Wurzel ihrer jüdischen Kultur sei die Großmutter gewesen, sagt Yanna. Bei ihr wuchs sie auf. »Die Oma war ein sehr gläubiger Mensch, las hebräisch, besaß Bücher über jüdische Bräuche. Von ihr habe ich Jiddisch gelernt.« Die Frau, von der Yanna mit großer Achtung spricht, starb, als die Enkelin 14 Jahre alt war.
Die Mitte der 80er Jahre beginnende Perestroika weckte auch bei den Menschen in Charkow Hoffnungen. Es gab sichtbare Zeichen für Veränderungen. So wurde die Synagoge instand gesetzt. Doch der Wunsch nach einem guten Leben erfüllte sich nicht für Yanna und ihre Familie. Yannas Sohn – er war Schachmeister – hatte bereits als 17jähriger ein Radiophysikstudium begonnen. Doch ob der talentierte junge Mann nach dem Studium einen Job finden würde, war ungewiß. Yanna selbst, die sich von ihrem Mann hatte scheiden lassen, wußte nicht, wie sie als alleinstehende Mutter sich und ihren Sohn ernähren sollte. Und da war noch eine andere Angst: »Die Geschichte lehrt, sobald es wirtschaftliche und politische Turbulenzen gibt, sucht man einen Schuldigen, und schon oft waren das die Juden.« Freunde und Verwandte waren in die USA oder nach Israel gegangen. Für Yanna war Deutschland das Land für einen Neuanfang.
»Ein schwieriger Schritt«, erinnert sie sich. Die Eltern mußten erst überzeugt werden, daß es der richtige Schritt sein könnte. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft. Der Großvater mütterlicherseits war bei Stalingrad gefallen. Die Eltern hatten deshalb viele Vorbehalte gegen das Land, aus dem die einstigen Angreifer gekommen waren. »Mich von der Familie zu trennen, war unmöglich.«
Der Vater war 71, die Mutter 68, der Sohn 17, Yanna selbst 42 Jahre alt, als die Familie nach Deutschland kam. Das Datum hat sich ihr fest eingeprägt: Es war der 13. Dezember 1992. Sie landeten in Holzhausen, einem Dörfchen in Nordhessen. Yanna sprach damals kein Wort Deutsch. Kaum ein paar Tage in der auserwählten Heimat, fand sie jedoch schon einen Sprachkurs für Akademiker. Das Lernen fiel ihr leicht. »Es ging ganz schnell.« Englisch und Jiddisch halfen ihr, sich in die fremde Sprache hineinzudenken.
Bei ihrem Sohn, der in Deutschland zur Schule gehen sollte, war der Weg zur Sprache länger. Der Mutter wachsen heute noch Sorgenfalten, wenn sie daran zurückdenkt. »Er hing in der Luft.« Nur durch die Hilfe der jüdischen Gemeinde in Kassel – wohin die Familie nach fast einem Jahr in Holzhausen zog – fand sich ein Platz in einem Sprachkurs. Der Sohn mußte jedoch weitere Hürden überwinden, denn sein ukrainisches Abitur wurde nicht anerkannt. Er begann ein medizinisches Fachabitur an der Kölner Universität. Als er das erfolgreich abgeschlossen hatte, bewarb er sich um einen Medizinstudienplatz.
»Es hat sich Gott sei Dank alles gut gelöst«, sagt Yanna erleichtert. Ihr Sohn arbeitet heute als Arzt an einer Klinik in Hannover. Er hat eine eigene Wohnung in Kassel, verbringt aber die meiste Zeit bei der Arbeit. Seitdem er eigene Wege geht, lebt Yanna allein. Vor einigen Jahren lernte sie einen Mann kennen. Das neue Leben schien also auch in dieser Hinsicht glücklich zu werden. Doch der Lebensgefährte starb plötzlich an einem Herzinfarkt. »Das ist ein großer Verlust.«
Wie viele hochqualifizierte Landsleute hatte Yanna in Deutschland zunächst keinen Job gefunden. Sie versuchte es mit Fortbildung, entschied sich für Computerprogrammierung. Das hatte zwar auf den ersten Blick nichts mit ihrer früheren Arbeit zu tun, doch »es war immerhin etwas Verwandtes«. Sie war von sich überzeugt. »Du kriegst das schon hin«, sagte sie sich. Und sie sollte Recht behalten: Nach Abschluß des Kurses fand sie Arbeit als EDV-Netzwerk-Organisatorin in einem Ingenieurbüro. Doch ein Jahr später war schon wieder Schluß damit, weil das Büro in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Sie fand eine Stelle als Softwareentwicklerin. Doch als ihr das viele Herumreisen nicht gut tat, suchte sie etwas Neues. Das fand sie durch ein Praktikum an der Kasseler Universität. Dort war sie zunächst freie wissenschaftliche Mitarbeiterin – bis 1998 eine Stelle am Fachbereich Elektrotechnik frei wurde. Inzwischen sorgt Yanna dafür, daß das EDV-Netzwerk der Uni funktioniert. »Eine sehr anspruchsvolle Arbeit.«
Kontakte zu den Menschen in Deutschland aufzubauen, sei ihr nicht schwergefallen, sagt sie. Schon in der kurzen Zeit in Holzhausen lernte Yanna »liebe, nette Leute« kennen, mit denen sie heute noch befreundet ist. Auch in Kassel fanden sich – in der Gemeinde und außerhalb – Menschen, die ihr halfen. Für ihre Eltern sei die Gemeinde schon vor Jahren zu einer neuen Heimat geworden. Für Yanna hat sie inzwischen die gleiche Bedeutung. »Die Gemeinde ist gut für die Seele«, sagt sie. Allerdings trifft sie dort immer wieder hochgebildete Leute, die aber in einem Alter seien, wo sie kaum noch Arbeit finden. Bei Mitleid will sie es aber nicht bewenden lassen. »Ich versuche, für sie Informationen zu finden.«
Auch wenn Yanna sich ein Leben ohne Gemeinde heute nicht mehr vorstellen kann, gab es Momente, in der die Geborgenheit zerbrechlich erschien. Es gab einen Anschlag auf den jüdischen Friedhof, Randalierer hatten Grabsteine beschädigt und umgeworfen. Yanna versucht, die Angst im Zaum zu halten. »Antisemitismus gibt es überall.« Sie beruhigt sich damit, »daß in Deutschland fast alles an die Öffentlichkeit kommt«. Trotz ihres Glaubens an die Demokratie klingt es wie eine Mahnung an sich selbst, wenn sie fordert, wachsam zu sein und nichts herunterzuspielen.
Bis sich ihre Heimat, die Ukraine, und die gesamte ehemalige Sowjetunion zu einem halbwegs demokratischen Gebilde entwickelt haben, werde »unheimlich viel Zeit« vergehen, prophezeit Yanna. Die einst zusammengeschlossenen Völker sind aus ihrer Sicht viel zu schnell eigene Wege gegangen. »Sie hatten doch sehr enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen.«
Seit Yanna aus Charkow weggegangen ist, hat sie ihre Heimatstadt nicht wieder besucht. »Ich fahre nicht hin«, sagt sie entschieden. Warum nicht? Sie überlegt, sucht nach einer Begründung. »Es ist eine andere Stadt geworden«, meint sie. Sie habe Angst vor der Enttäuschung. »Es tut weh, die Armut der Mittelschicht zu beobachten.« Irgendwann werde sie aber zurückfahren. In Deutschland scheint sie ihren Platz jedenfalls gefunden zu haben. »Egal was passiert ist«, sagt sie entschieden, »ich bereue es nicht, hierhergekommen zu sein«.

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