Es ist ein gesellschaftliches Phänomen, dass der Mensch gerne mit dem Strom schwimmt. In jeder Gesellschaft werden sehr klare Verhaltensweisen festgelegt. Und jeder, der sie ändern möchte, wird scheitern. Schlimmer noch: Wesentliche mentale Unterschiede können Spannungen zwischen Gruppen erzeugen, Konflikte schaffen und sogar schwerwiegende Folgen haben. Der bekannte Satz: »Wenn du in Rom bist, verhalte Dich wie die Römer« muss von zwei Seiten betrachtet werden. Einerseits wendet er sich an den Fremden, der als Gast kommt: Ändere deinen Umgang und passe dich den Einheimischen an, unabhängig davon, welche Verhaltensweisen gut sind oder nicht. Andererseits erklärt die Gesellschaft, dass sie keinen neuen Geist haben möchte, der die Fundamente ihrer Existenz gefährden könnte. Deshalb wird der Gast aufgefordert, selbst wenn er positive Impulse mitbringt, diese nicht innerhalb der neuen Gesellschaft zu zeigen.
Einer der in diesem Zusammenhang bemerkenswertesten Feiertage im jüdischen Kalender ist das Laubhüttenfest. Die Tora weist uns an, zum Laubhüttenfest unser Verhalten von der der restlichen Welt zu unterscheiden. Selbstverständlich stimmt es, dass uns die Tora auch auf allen anderen Wegen anders führt als die übrigen Völker. Aber dazu ist zu ergänzen, dass die restlichen Gebote dazu dienen, die Besonderheit und die Moral des Volkes Israel hervorzuheben – und so ein Beispiel der moralischen Lebensweise für andere Völker zu sein.
In Bezug auf Sukkot heißt es in der To-
ra: »Sieben Tage sollt ihr in Laubhütten wohnen« (3. Buch Moses 23, 42). Es ist ge-
nau vorgegeben, wann diese Pflicht zu erfüllen ist: »Und das Erntefest im Ausgang des Jahres, wenn du deine Arbeit eingesammelt hast vom Felde« (2. Buch Moses, 23, 16). Raschi, der wichtigste Kommentator von Tora und Talmud, erklärt: »Das Erntefest ist das Laubhüttenfest … weil das Korn auf den Feldern trocknet, während die Sonne scheint und während des Festes wird es wegen des Regens eingesammelt.« Warum fand es die Tora wichtig, dass wir gerade in dieser Zeit, vor Winterbeginn, an Tagen, an denen das Korn eingesammelt wird, unsere Häuser für sieben Tage verlassen und in die Laubhütten ziehen?
Und noch ein Gedanke: Auch wenn man »mit dem Strom« schwimmt, werden doch wirklich nur diejenigen geschätzt, die kämpfen und gegen den Strom schwimmen. Diese Menschen können einen Wandel in der Gesellschaft und der Welt herbeiführen. Es ist ein Wandel, der die Gesell-
schaft befruchtet und ihr Gelegenheit gibt, sich zu verbessern und versteckte Seiten zu entdecken, die bisher nicht ausgedrückt wurden. Was also ist das Ziel des Aufenthalts in der Laubhütte? Soll uns dieses ungewöhnliche Verhalten etwas lehren, was wir bislang nicht wussten?
Die Tora erläutert die Pflicht so: »Dass eure Nachkommen wissen, wie ich die Kinder Israel habe lassen in Hütten wohnen, da ich sie aus Ägyptenland führte. Ich bin der Herr, euer G’tt.« Während des Auszuges aus Ägypten saß das Volk Israel in Laubhütten. Und um uns daran zu erinnern, müssen wir uns ebenfalls in Sukkot aufhalten. Die Tanaim, also die Weisen der Mischna, waren sich nicht darüber einig, was genau diese Laubhütten waren: »Rabbi Eliezer meinte: Ehrenwolken. Rabbi Akiva sagte: richtige Laubhütten« (Talmud, Sukka, 11,2).
Rabbi Akiva versucht, uns die Frage im Rahmen der rationellen Denkweise zu er-
klären. Er meint, dass die Sukkot, in denen das Volk Israel in der Wüste wohnte, ganz normale Hütten waren. Vor den Wintertagen baute das Volk Israel Laubhütten, um sich gegen Kälte und Regen zu schützen. Rabbi Eliezer betont im Gegenteil das spirituelle Element der Sukka, das Wunder. Ehrenwolken waren Wolken, die dem Midrasch zufolge das ganze Lager Israels umkreisten und gegen Wind, Schlangen und Insekten schützten.
Jeder, der eine Reise in der Wüste unternimmt, ist sich darüber bewusst, dass er sich in große Gefahr begibt. Es ist kein natürlicher Wohnort für einen Menschen. Gefahren durch Wassermangel, Raubtiere und Ähnliches gehören dazu. Natürlich wissen wir heute, dass nicht nur das Leben in der Wüste gefährlich sein kann. Naturkatastrophen wie gewaltige Tsunamis, heftige Wirbelstürme, und kaum kontrollierbare Waldbrände haben uns das in den vergangenen Wochen und Monaten sehr deutlich vor Augen geführt.
»My Home is my castle«, sagen die Briten. Das Heim eines Menschen ist sein Schloss, seine schützende Burg. Der Um-
zug in die Laubhütte eröffnet uns neue Ho-
rizonte. Wir werden an die Geschichte er-
innert und lernen ganz persönlich, dass der Schöpfer der Welt eine unnatürliche Situation, wie das Leben in der Wüste, zu etwas Selbstverständlichem macht. Es wird von uns verlangt, den Glauben an G’tt zu stärken, der in jeder Situation und überall über uns wacht und die besten Lebensbedingungen für uns schafft.
Die Erkenntnis, dass nur der Schöpfer der Welt den Schlüssel für die Kontrolle über die Naturereignisse besitzt, ist ein entscheidender Punkt in dem Verständnis des Laubhüttenfests. Hätten wir die Laubhütte im Sommer gebaut, dann hätten wir nichts davon gelernt. Gerade während des Herbs-
tes und des bevorstehenden Winters, und angesichts der Tatsache, dass es bald heftig regnen wird, wird der Glaube an G’tt gestärkt. Der Mensch wird angewiesen, sein Zuhause für eine ganze Woche zu verlassen und in die Laubhütte zu ziehen. Wir werden angewiesen, dort zu essen, zu schlafen und alles andere zu tun. Die Erkenntnis und die Erinnerung, dass ein ganzes Volk – einige Millionen Menschen – 40 Jahre lang in der Wüste lebte und ernährt wurde, stärkt bei uns die Erkenntnis, dass wir niemanden außer G’tt haben, auf den wir uns verlassen können.
Der Autor ist Gemeinderabbiner in Dortmund und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.