von Martin Krauss
So kann man es natürlich auch formulieren: »Die neue Kür zu ›Schindlers Liste‹ war als Programm eine Augenweide«, heißt es in einer Pressemitteilung der Deutschen Eislauf-Union. »Dreifachsprünge, schwierigste Hebungen und Würfe, die Todesspirale und alle weiteren Elemente waren fließend in die Choreografie eingebettet, leidenschaftlich interpretiert.«
Gelobt werden die deutschen Welt- und Europameister im Paarlauf, Aljona Savchenko und Robin Szolkow, die auch derzeit bei der Eiskunstlauf-WM in Los Angeles zu den Favoriten zählen. Und wieder, wie schon bei den Europameisterschaften im Januar in Helsinki, läuft das Paar zum Soundtrack des Films Schindlers Liste, komponiert von John Williams. Savchenko und Szolkow sind nicht die ersten, die die Musik verwenden. Seit Steven Spielbergs Film 1993 herauskam, findet sich die Verwendung seines musikalischen Titelmotivs oft im internationalen Sport.
Bereits 1994 traten bei den Eiskunstlauf-WM zwei Sportler zur Melodie von Schindlers Liste an: der Amerikaner Paul Wylie und die Deutsche Katarina Witt. Wylie trug in der Männerkonkurrenz ein graues Kostüm, das an die Lagerkluft von KZ-Häftlingen erinnerte, auf den Rücken hatte er hebräische Buchstaben gestickt, und er zeigte einen Hitlergruß. Katarina Witt trug, wie jetzt auch Aljona Savchenko, ein rotes Kostüm, das an das Mädchen mit dem roten Kleid aus Spielbergs Film erinnert.
Der amerikanische Psychologe Michael Rothberg hat sich mit der Verwendung des Holocaust in der Kultur und damit auch im Sport beschäftigt. In seinem Buch Traumatic Realism analysiert er Witts Auftritt als »symbolisch aufgeladener« als den Wylies. Einer der Moderatoren des amerikanischen Fernsehsenders NBC sagte damals: »Sie sagte mir, dass ihre Generation jünger und anders ist, aber dass sie nie den Holocaust vergessen darf. Diese Botschaft hat sie heute vorgetragen.« Jirina Ribbens, die für NBC als Eiskunstlaufexpertin arbeitet, erinnert sich: »Es gab ein leichtes Murren, aber im Großen und Ganzen wurde ihre Kür gut aufgenommen.«
Schon Katarina Witt, geboren 1965 und aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt, repräsentierte eine jüngere deutsche Generation, die sich, ohne persönliche Schuld zu tragen, mit der Schoa beschäftigte. Die Eiskunstläufer der Gegenwart scheinen noch weniger mit der deutschen Vergangenheit verbunden zu sein: Aljona Savchenko wurde 1984 im ukrainischen Kiew geboren, seit 2003 lebt sie in Chemnitz, dem früheren Karl-Marx-Stadt. Robin Szolkow wurde 1979 in Greifswald geboren, sein Vater stammt aus Tansania.
Diskussionen, ob es angemessen ist, sich mit einem Motiv aus dem Holocaust ins Getümmel um Medaillen, Werbeverträge und internationale Reputation zu stürzen, gibt es nicht mal mehr im Ansatz. Schon als sich Katarina Witt 1994 dem Thema näherte, blieb eine größere Debatte aus, zumindest in Deutschland. So wurde auch die Chance vertan, eine gesellschaftliche Verständigung darüber zu erreichen, was mit der Kür, was mit Sport ausgedrückt werden kann und darf. »Obwohl es offensichtlich gut gemeint war«, bilanziert der Psychologe Rothberg Witts WM-Kür, »so war der Symbolgehalt und die Botschaft ihres Auftritts doch im besten Fall mehrdeutig.«
Protest gegen eine sportliche Adaptation des Holocaustthemas regte sich hingegen kurz vor den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta in einer anderen Disziplin: Die französische Equipe im Synchronschwimmen wollte mit ihrer Choreografie die Ankunft jüdischer Frauen in den Vernichtungslagern, die Selektion durch Naziärzte und den letzten Gang in die Gaskammern zeigen. Das Team hatte die Kür schon einstudiert und häufiger bei Wettkämpfen gezeigt. Als Musik wurde wiederum die Titelmelodie aus Schindlers Liste verwendet. »Das ist taktlos und verweist auf einen ganz armseligen Geschmack«, kritisierte damals Henri Hajdenberg, der Vorsitzende des Dachverbands der jüdischen Organisationen in Frankreich (CRIF). Die Sportlerinnen erwiderten, dass es um die künstlerische Verarbeitung eines schwierigen Themas gehe. »Der Holocaust berührt uns nun noch mehr«, sagte die Trainerin, Odile Petit. »Die Kür ist in keiner Weise eine Parodie. Unsere Botschaft ist ein Appell, Rassismus zu bekämpfen.« Petit verwies auch darauf, dass in einer anderen Sportart, dem Eiskunstlauf, die Inszenierung von Holocaustthemen nichts Außergewöhnliches sei. Der französische Sportminister Guy Drut untersagte letztlich die Kür.
Der deutsche Soziologe Detlev Claussen, der zu Holocaustrezeption und Antisemitismus forscht, hält das französische Beispiel für eine »bizarre Spitze«, die auf die »Marktgängigkeit des Holocaustthemas« verweist: In der Unterhaltungsindustrie gäbe es eine neue Branche, die man »schon frühzeitig als ›Schoa-business‹ charakterisiert hat«.
Hört man Ingo Steuer zu, dem Trainer von Savchenko/Szolkow bei der aktuellen Eiskunstlauf-WM, hat das Musikthema Schindlers Liste gar keinen konkreten historischen Bezug mehr zum Holocaust. »Ein schwieriges Stück«, sagt er zum Inhalt der Kür, »es geht um Zusammenhalt, Liebe und Sehnsucht.« Steuer, der wegen seiner Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit stark in der Kritik steht, fügt hinzu: »Wir wollen die Menschen mit unserer Ausstrahlung beeindrucken.« Und vielleicht sogar damit Medaillen gewinnen.