von Baruch Rabinowitz
Es geht um Toleranz, Gleichberechtigung und ums Überleben. Der Reihe nach. In der vergangenen Woche fand in der jüdischen Gemeinde Stockholm ein historisches Referendum statt. Die Gemeindemitglieder sollten entscheiden, ob auch Frauen in der größten Synagoge der Hauptstadt zur Tora aufgerufen werden und als Rabbiner und Kantoren amtieren dürfen. Rund 1.900 Mitglieder der 3.500köpfigen Einheitsgemeinde nahmen an der Abstimmung teil: 904 waren dafür, 600 dagegen und 400 enthielten sich. Eine Entscheidung mit womöglich weitreichenden Folgen.
Schon in naher Zukunft wird die jüdische Gemeinde Stockholm einen neuen Rabbiner für die Große Synagoge suchen müssen – denn seit dieser Woche gibt es keinen mehr. Der in den USA geborene Rabbiner Dov Vogel hat am vergangenen Schabbat seine Abschiedspredigt gehalten und ist am Sonntag nach Israel umgezogen. »Es mag sein, daß der beste Rabbinerkandidat eine Frau sein wird«, sagt Bengt Bjorkstén, der Vorsitzende der liberalen jüdischen Partei und Mitglied des Gemeinde- rates. »Wir müssen unbedingt auch Rabbinerinnen als mögliche Kandidaten für das Amt in der Großen Synagoge betrachten.«
Laut Rabbinat soll die Suche im nächsten Jahr beginnen – der passende Kandidat wird jedoch voraussichtlich nicht vor 2008 angestellt. Denn Grund zur Eile gibt es nicht. Die zwei amtierenden Kantoren übernehmen die meisten rabbinischen Aufgaben. Sie führen Bestattungen, Bar- und Bat Mizwot und sogar jüdische Hochzeiten durch. »Ohne Rabbiner wird die Synagoge nicht lahmgelegt. Und wenn der rabbinische Beistand unbedingt gebraucht wird, gibt’s ja noch zwei orthodoxe Rabbiner in der Stadt«, sagt Kantor Maynard Gerber im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
Aber nicht alle in der Gemeinde und im Vorstand sind vom Ergebnis des Referendums begeistert. Nicht, daß die Große Synagoge, die als wichtigstes Symbol des Ju- dentums im nördlichen Königreich dient, orthodox ist. Der 1870 errichtete Tempel wurde nach dem Vorbild der deutschen Reformsynagogen gestaltet. Schon seit Jahrzehnten können Frauen selbst entscheiden, ob sie auf der traditionellen Empore oder zusammen mit Männern Platz nehmen. Die Gottesdienste werden von Orgelmusik begleitet – sogar am Schabbat und an Jom Kippur. Die meisten Mitglieder sind säkular und besuchen die Synagoge nur selten. Nicht ungewöhnlich ist auch, wenn während der Gottesdienste die Zahl der nicht-jüdischen Besucher und Touristen die Zahl der Stockholmer Juden übersteigt.
Dennoch sei die Synagoge traditionell, und am liebsten sollte sie das auch bleiben, sagt Tobias Rawet, ein Repräsentant der Judisk Samling (Jüdische Versammlung) Partei. »In der Großen Synagoge sollten wir unsere Tradition bewahren. Natürlich dürfen auch Frauen am Gottesdienst leitend teilnehmen, aber lieber woanders.« Einige Mitglieder meinen, daß mit der Teilnahme von Frauen am Gottesdienst, die schwedisch-konservative Richtung der Gemeinde endgültig verlorengeht. Es könnnte aber einen Mittelweg geben, hofft der in New York geborene Maynard Gerber, der schon seit 30 Jahren als Kantor und Mohel in Stockholm amtiert. »Ich glaube nicht, daß wir alle Gottesdienste sofort egalitär machen sollten. Es gibt vier Schabbatot im Monat. Wir können drei egalitär und einen traditionell-konservativ gestalten.«
Daß durch die Reform des Gottesdienstes die Synagoge für Juden attraktiver wird, glaubt Gerber jedoch nicht. »Ich habe es schon so oft gehört, daß Juden sagen: ›Wenn ihr dies und jenes ändert, dann komme ich.‹ Wir haben dies und jenes geändert – die Menschen kommen trotzdem nicht.« Mira Landau, die auch am Referendum teilgenommen hat, ist jedoch der Auffassung, daß das Gemeindeleben dadurch lebendiger und offener werden kann. »Ich sehe keinen Grund, warum Frauen am Gottesdienst nicht aktiv teilnehmen sollten«, sagt die 42jährige Soziologin. »Wir sind ja nicht orthodox, also wo ist das Problem?«
Das Ergebnis des Referendums ist jedoch noch nicht endgültig. Im Dezember wird der Gemeinderat entscheiden, wie und wann dem Wunsch der Mehrheit nachgegeben werden kann. Für einige Gemeindemitglieder könnte die Umstellung auf die egalitären Gottesdienste schwierig sein. Es bestehe jedoch kein Zweifel daran, daß der Gemeinderat die Entscheidung des Referendums bestätigen werde, vermutet Gerber. Sie brauche jedoch Zeit und solle schrittweise umgesetzt werden. »Es ist keine Frage, daß die Große Synagoge egalitär wird. Aber wir wollen unsere Tradition nicht von heute auf morgen radikal ändern.«