Ruhestörer – als solche wurden Juden seit jeher wahrgenommen. Marcel Reich-Ranicki wählte diesen Begriff für seinen Klassiker über Juden in der deutschen Literatur. Weit über die Kultur hinaus wurden und werden Juden – und in dieser Tradition der jüdische Staat Israel – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit wahrgenommen.
Die Empörung über Israel im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Hamas ist daher historisch »nichts Neues unter der Sonne«. Gotthold Ephraim Lessing und Max Frisch haben diesen mal diskriminierenden, mal liquidierenden Primitivismus ins Lächerliche gezogen. Lessing mit dem Jerusalemer Patriarchen und dessen »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt«. Und Frisch mit dem »Jud bleibt Jud« in seinem Drama Andorra.
Antizionismus und Antiisraelismus
Früher: »Die Juden sind schuld!«, heute: »Israel ist schuld!«. Antizionismus und Antiisraelismus sind lediglich die aktualisierten Varianten des nicht wirklich »Guten alten Rischess« (Judenhasses). Diese Mechanik funktioniert immer noch, wieder und sicher auch weiter. In Anlehnung an den kürzlich verstorbenen und nicht nur vom linksliberalen Kulturmilieu gepriesenen Religionswissenschaftler Jan Assmann könnte man vom »Kulturellen Gedächtnis« sprechen. Dazu gehören zwei anthropologische und historisch nachweisbare Konstanten.
Faktor eins: Undankbarkeit. Dankbarkeit ist selten. Oft schlägt sie in Polemik, Hass, Diskriminierung oder gar Liquidierung um. Beispiel Religion. Ohne das Judentum gäbe es weder Christentum noch Islam. Doch in der christlichen sowie islamischen Welt war und ist (!) jüdisches Leben Existenz auf Widerruf. Die teils epochalen Beiträge von Juden zur Fortentwicklung von Kultur, Gesellschaft oder Wissenschaft sind Legion.
Gerade deshalb führten und führen sie zu einer Art Vatermord an »den« Juden, zumal auch die Nachfahren der einstigen Innovatoren innovativ wirken, erfolgreich sind und deshalb beiseite geschubst werden sollen. Historisch: die bereits ab 1933 rigorose Vertreibung jüdischer Gelehrter aus deutschen Universitäten. Aktuell: die Attacken auf Juden an den US-Elite-Universitäten, von wo aus das Phänomen sich weltweit verbreitet.
Juden oder Israelis als Rechtfertiger des Judenhasses
Besonders beliebt ist heute diese Variante: Juden oder Israelis als Rechtfertiger des Judenhasses. Dieses Modell wenden auch Medien gern an. Jüdische Israelfeinde wie Judith Butler, Deborah Feldman und Gleichgesinnte finden landauf, landab überproportional Gehör.
Die feinere Art bedient sich der an Israel wirklich leidenden Israelis wie David Grossman oder Moshe Zimmermann, der als Historiker kontrafaktisch erklärt, der Zionismus hätte versagt, weil er den Juden durch den jüdischen Staat Sicherheit versprochen hätte. Irrtum! Zionismus und Israel versprachen den Juden nie außenpolitische, sondern allein innenpolitische Sicherheit im eigenen Staat.
Früher hieß es: »Die Juden sind schuld!«, heute: »Israel ist schuld!«.
Nicht länger sollte das Leben der Juden von der Gnade der nichtjüdischen Mehrheit abhängen. Dieses Versprechen wurde eingelöst. Aber Antiisraelismus ist heute die Eintrittskarte ins Kulturmilieu. Siehe Berlinale und Oscar-Preisverleihung vom 10. März.
Faktor zwei hat der französische Meisterdenker François de La Rochefoucauld ganz ohne Judenbezug benannt: Der Täter kann seinem Opfer seine Tat nicht vergeben. Böse Zungen übertragen das so: »Auschwitz werden die Deutschen den Juden nie verzeihen.« Das kollektive Gedächtnis wirkt hierbei von Generation zu Generation, obwohl (gerade weil?) die Nachfahren der Täter keine Täter sind.
»Ein Meister aus Deutschland« und seine »willigen Gesellen«
Der Tod war »ein Meister aus Deutschland«, aber er hatte in Europa sowie in der islamischen Welt »willige Gesellen«. Bei ihnen wirkt das kollektive Gedächtnis ebenfalls. Jenseits jener Urfaktoren gibt es weitere: Subjektiv sind sie im Sinne der jeweiligen Akteure nicht antisemitisch, sie sind es aber objektiv, besser: objektivierbar in ihrer Wirkung. Einige seien hervorgehoben.
Parteilichkeit durch Ahnungslosigkeit oder gezielte Fehlinformation durch akademisch dekorierte Propagandisten, die laufend befragt werden wie Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Auch sie unterstellt Israel kontrafaktisch »Apartheid«. Ihren wirklich fachkundigen Kollegen Guido Steinberg sieht man deutlich seltener. Beliebt ist Michael Lüders, medial vorgestellt als Nahost-»Experte«. Das schon, aber er ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und als solcher Partei. Ein Schuft, wer dabei Böses denkt.
Die Dynamik ist klar. Der noch ahnungslosere Rest schreibt ab und wiederholt. Auch den pseudowissenschaftlichen Unsinn von Israel als »Kolonialmacht«. Das Ereignis von gestern ist heute verdrängt, vergessen. Die Mord- und Blutorgie der Hamas vom 7. Oktober 2023 liegt »lange« zurück. Die Bilder vom Elend der Palästinenser sind täglich zu sehen. Dass sie von der Hamas als Kanonenfutter missbraucht werden, sieht man nicht.
In Deutschland gern verdrängt: Die Deutschen konnten sich nicht selbst von den Nazis befreien. Wirklich befreit wurden sie von den Westmächten, allen voran den USA. Undankbarkeit, siehe oben. Dass Israel – wie einst die USA die Deutschen – die Palästinenser von der Hamas befreien könnte, wird ungern eingestanden. Stattdessen – wie der auch die Ukraine zum Aufgeben er»mut«igende Papst – der Appell an Israel, den Krieg zu beenden. Er wäre, wie am 8. Mai 1945, sofort beendet, wenn die Hamas die Geiseln freiließe, sich ergäbe. Aber, klar, Israel ist, die Juden sind Ruhestörer. »Lieb Vaterland, magst ruhig sein.«
Der Autor ist Historiker und Publizist.