von Gil Yaron
Touristen kennen das Gedränge in den engen Gassen der Jerusalemer Altstadt, das Getümmel an der Klagemauer, das Durcheinander auf den Märkten, das endlose Gebrumme der Dieselmotoren und die hektischen Einkäufe in der Fußgängerzone. Doch Jerusalem kann noch echte Abenteuer bieten. Romantisch, aufregend oder schlicht nur überraschend warten sie abseits vom Rummel darauf, entdeckt zu werden.
Wer sich frühere Epochen in der Geschichte Jerusalems vor Augen führen will, findet hinter dem knallgelben Eingang eines unscheinbaren Geschäfts im christlichen Viertel der Altstadt ein Nest der Nostalgie. Seit 1924, als Großvater Elia mit 15 Jahren seine ersten Aufnahmen machte, hält Familie Kahvedjian schon in der dritten Generation die Entwicklung des heiligen Landes auf Film fest. Elia Kahvedjian, der den Genozid an den Armeniern als achtjähriger Waise überlebte, wurde von amerikanischen Missionaren in ein Internat nach Nazareth gebracht. Hier lernte er als Gehilfe des Schulfotografen das Handwerk von der Pike auf. Später machte er sich in Jerusalem selbstständig und eröffnete 1949 sein erstes Fotola- bor »Elia Photo Service«, das sich heute auf der Al-Khanka-Straße befindet – das älteste Fotogeschäft der Stadt.
Die mehr als 2.500 historischen Aufnahmen, die Elias Sohn Kevork und Enkel Elia katalogisiert und reproduziert haben, laden dazu ein, zwischen den dunklen Holzregalen zu einer Zeitreise aufzubrechen. Längst vergessene Augenblicke, zum Beispiel der zweite Besuch des Zeppelins in Palästina am 11. April 1931, sind hier matt glänzend verewigt. Einem Foto Kahvedjians wurde besondere Ehre zuteil: Die Aufnahme vom Ölberg mit Jerusalem im Hintergrund wurde zur Grundlage des bekannten »Visit-Palestine«-Posters, das Franz Kraus 1938 für die Zionistische Bewegung entwarf. Heute wird das Poster in arabischen Läden als Ausdruck palästinensischen Nationalismus verkauft, ohne dass sich die Händler des armenisch-zionistischen Ursprungs bewusst sind. Unzählige silbrig schimmernde Negative aus den zwanziger und dreißiger Jahren warten im Speicher der Kahvedjians noch darauf, entdeckt und entwickelt zu werden.
Ein paar Gehminuten entfernt schallt am Damaskustor arabische Musik aus unzähligen Lautsprechern. Verkäufer buhlen mit lauten Rufen um Aufmerksamkeit. Nur wenige Meter östlich des bunten Basars kann man in eine geheimnisvolle, stille Welt abtauchen: Salomons Steinbrüche oder die Höhle Zedekiahs, die mit 9.000 Quadratmetern größte von Menschenhand geschaffene Höhle Israels. Zehn Meter unter den Fundamenten der Häuser des muslimischen Viertels wird ihre 500.000 Tonnen schwere Felsdecke von immensen Pfeilern getragen, die Steinmetze aus biblischen Zeiten stehen ließen. Die Luft ist schwer, schummriges Licht beleuchtet die Hallen, die an manchen Stellen vier Stockwerke hoch sind, während im Hintergrund Wasser in kleinen Rinnsalen die Wände herunterplätschert oder von der Decke auf die Schultern tropft. Über mehrere Jahrhunderte war dieser überwältigende Ort in Vergessenheit geraten. Seine Wiederentdeckung ist dem Hund von James Turner Barclay zu verdanken. Als der amerikanische Missionar und Arzt im Jahr 1854 seinen Nachmittagsspaziergang machte, ging sein vierbeiniger Freund verloren. Nach langem Su- chen hörte er das ängstliche Bellen, das aus einer tiefen Grube direkt unter der Stadtmauer tönte. Barclays Rettungsaktion führte ihn direkt in die Höhle.
Viele Mythen ranken sich um das gewaltige Gewölbe unter der Altstadt. Archäologen sind sich zwar darüber einig, dass die Höhle von Menschen geschaffen wurde. Wer aber die ersten Steinmetze waren, bleibt ungewiss. Laut der Theorie des englischen Forschers und Freimaurers Charles Warren hat König Salomon von diesem Ort Baumaterial für den ersten Tempel und seinen Palast bezogen. An die 80.000 Steinmetze sollen im Dienst Salomons gehämmert haben. Sie suchten den geschätzten harten Melekeh-Kalkstein, der weiße und edelste im Gebirge Jerusalems, der der Errichtung von Monumentalbauten diente. Handfeste Beweise dafür, dass die Grundfeste des ersten Tempels aus dieser Höhle stammen, existieren zwar nicht, doch die Freimaurer, die in Salomon ihren ersten Großmeister sahen, nahmen dies zum Anlass, in der Höhle 1868 ihre Gründungszeremonie abzuhalten. Sicher scheint allerdings, dass zumindest ein Teil der großen Bauvorhaben von König Herodes, darunter die Erweiterung des Tempelbergs, mit den Felsbrocken aus dieser Höhle realisiert wurden. Eine jüdische Sage behauptet, König Zedekiah, der letzte König Judäas, sei vor den siegreichen Babyloniern durch diese Höhle aus Jerusalem geflohen, bevor er im Jordantal gefasst wurde. Als Strafe für seine Rebellion gegen die damalige Supermacht wurden zunächst die beiden Söhne vor seinen Augen ermordet, dann er selbst geblendet und in die Sklaverei verschleppt. Der grausame Anblick sollte das letzte sein, was seine Augen sahen. So nennen Jerusalemer das stete Rinnsal am tiefen Ende der 230 Meter langen Höhle die »Tränen Zedekiahs«. Noch heute suchen manche hier nach dem verschollenen Tempelschatz, der irgendwo dort vergraben sein soll.
In den Bergen Judäas, westlich von Jerusalem, verbirgt sich eine Höhle völlig anderen Charakters. Unweit des verlassenen arabischen Dorfes Sataf, inmitten vom grünen Nirgendwo zwischen Bergterrassen, Kiefernwäldern und Olivenhainen, hat Schai Selzer sich sein Leben aufgebaut. Stets in Weiß gekleidet, mit wallendem Bart und faltenreichem Gesicht, sieht einer der berühmtesten Käsemacher Israels aus, als sei er der Bibel entsprungen. Es war ein Trauma aus dem Jom-Kippur-Krieg 1973, das den Sohn einer betuchten Jerusalemer Familie in die Einsamkeit westlich von Jerusalem ziehen ließ. Drei Jahre lang meditierte er in einer kleinen Höhle, deren Quelle wahrscheinlich schon zu Zeiten des zweiten Tempels Bauern Leben spendete. Zuerst versuchte er sein Glück erfolglos mit Schafen und Oliven, bis er mit seinem Ziegenkäse auf eine Goldader stieß.
Die Anfänge waren bescheiden. Jeden Freitag marschierte er mit wenigen Stücken hausgemachten Käses in die Stadt, um sie an Mann und Frau zu bringen. Inzwischen hat sich die kleine Höhle, in der jede Woche 80 Kilogramm sechs verschiedener Käse und Joghurts auf Eichenholzregalen heranreifen, zum Mekka der israelischen Käsepilger gemausert. Jedes Wochenende kommen Israelis zum einsamen Gehöft, und der Geruch der 190 Ziegen wird von den Abgasen der vielen Geländewagen überlagert. Der Vorreiter des israelischen Gourmetkäses ist längst nicht mehr allein. Auf vielen Bergspitzen haben Ökobauern inzwischen das wirtschaftliche Potenzial individuell gefertigten Ziegenkäses entdeckt. In Beduinenzelten oder restaurierten Ruinen servieren sie ihre Meisterwerke. Dazu gibt es hausbackenes Brot, eingelegte Oliven und saftigen Salat.
Von Selzers Höhle kann man auf dem gegenüberliegenden Hügel ein weiteres Kleinod entdecken. Unter dem Dorf Even Sappir versteckt sich das verträumte Kloster »St. Jean du Desert«. Das abgeschiedene Franziskanerkloster wurde an der Stelle einer Kreuzfahrerkapelle errichtet. Hier soll Johannes der Täufer viele Jahre verbracht haben. Die Romantik beginnt bereits, noch bevor man die friedliche Enklave durch einen steinernen Torbogen betritt. Terrassen mit Olivenbäumen sind bis in den Sommer mit rotem Mohn und grünen Gräsern übersät, als sei man inmitten eines Gemäldes Claude Monets. Obschon das Kloster viel von seinem Charme verloren hat, seitdem die Franziskaner im Jahr 2001 die Regie von griechischen Melkiten übernahmen, ist es einen Abstecher wert. Konnten Besucher früher Honigwein und Ikonen von angeheiterten und redseligen Mönchen erstehen, lassen die zwei Franziskaner ihre Besucher allein umherwandern. Zwischen Rosen, Pinienbäumen und duftendem Jasmin kann man dem Plätschern einer kleinen Quelle lauschen. Sie soll es Johannes ermöglicht haben, in Vorbereitung auf seine heilige Mission jahrelang in einer kleinen Höhle zu meditieren.
Während die Tradition, die Johannes den Täufer mit dem Kloster in Even Sappir verbindet, fragwürdig ist, diente eine andere Höhle im nahen Kibbuz Zuba vielleicht tatsächlich der Huldigung des Vorläufers Jesus. Vor zwei Jahren erregten Archäologen Aufsehen, als sie in der Höhle in den Plantagen des Kibbuz Wandmalereien aus dem 4. Jahrhundert n. u. Z. entdeckten. Neben den Treppen, die 26 Meter hinabführen, fanden sie ein Kreuz im jahrhundertealten Putz und in der Höhle die Darstellung einer Figur, die nach Meinung der Forscher Johannes den Täufer darstellt. Als Beweis zeigen sie auf einen abgetrennten Kopf. Johannes soll ein halbes Jahr, nachdem er Jesus getauft hatte, von Herodes Antipas geköpft worden sein. In der Höhle fand man ebenfalls Feuerstellen, in denen Weihrauch angezündet wurde, und eine Senke, die für die traditionelle Fußwaschung benutzt worden sein könnte. Manche sehen hierin den graduellen Übergang von der jüdischen Tradition des Eintauchens des gesamten Körpers zur christlichen Taufe.
Der Kibbuz Zuba, der 1948 von Kämpfern der elitären Palmach-Brigade anstelle eines verlassenen arabischen Dorfes errichtet wurde, hat noch mehr zu bieten. Unweit der Höhle und einer nahen Quelle, die vielleicht schon zur Zeit des ersten Tempels Felder bewässerte, steht ein fast 1.000 Jahre alter Olivenbaum. Sein Alter und der Umstand, dass in seinem hohlen Inneren zwei Erwachsene Platz finden können, sind der Stoff vieler lokaler Sagen. Beherrscht wird das Tal von der verfallenen Kreuzfahrerfestung Belmont, die der Hospitalierorden im Jahr 1170 hier errichtet hat. In dem Dickicht aus grünen Zweigen und verwitterten Ruinen kann man noch Entdecker spielen. Doch Vorsicht! Die gesamte Feste ist von einer großen Zisterne unterhöhlt, zu der man mit einem unvorsichtigen Tritt durch tiefe Brunnenschächte überraschend Zugang erhalten kann. Wer wagemutig auf das Dach des alten Turms klettert, kann einen einmaligen Rundblick auf die Berge Judäas genießen: von Jerusalem im Osten bis zum Mittelmeer, von Bethlehem im Süden bis Nebi Samuel, dem Hügel im Norden, von dem aus die Kreuzritter erstmals Jerusalem erblickten.
Wer danach noch Kraft hat, der hat in Jerusalem vielerlei Optionen, die angenehm kühlen Abende ausklingen zu lassen. Ein ausgebautes Öllager in der alten deutschen Kolonie ist eine der angesagtesten Adressen Jerusalems geworden. Inmitten eines Komplexes niedriger Verwaltungsgebäude und Lagerhäuser aus der britischen Mandatszeit haben vier junge Israelis vor zwei Jahren eine der beliebtesten Bars eröffnet. Es kann problematisch sein, abends einen der 50 Barhocker oder 250 Restaurantsitze des »Colony« zu ergattern. Wer früh genug reserviert, dem sind hervorragendes Essen und originelle Drinks vergönnt. Während man einen Colony Tropic, einen Cocktail aus frischen Früchten, schlürft, kann man entweder in den Erlebnissen des vergangenen Tages schwelgen oder Kontakt mit der bunten Kundschaft aufnehmen, die sich aus allen Bevölkerungsschichten der Stadt – jüdisch wie arabisch, jung und alt – zusammensetzt. In Jerusalem kann man nie wissen: Vielleicht ergibt sich ja ein neues Abenteuer.
Elia Photo Service: Al-Khanka-Straße 14, (christliches Viertel der Altstadt)
Zedekiah Höhle (Mearat Zidkiyahu): geöffnet Sonntag bis Donnerstag 9-17 Uhr
Schai Selzer: Freitag und Samstag. An der Kreuzung zwischen Landstraße 395 und 396 zum Sataf abbiegen, dann den Schildern mit der Ziege folgen. Für Gruppen auch während der Woche nach Anmeldung: 052-2603762 oder shayezim@gmail.com
Kloster St. Jean du Désert: Ganz durch den Moschav Even Sappir bis zu den Hühnerställen hindurchfahren, dann den Schildern zum Kloster nach links folgen, Besucherstunden täglich von 8-12 und 14-18 Uhr, Anmeldungen: 02-6416715, 02-6417411
Zuba: Besuche an der Quelle oder der Johanneshöhle müssen verabredet werden: 02-5347000. Hier können auch Führungen für die Kreuzfahrerfestung gebucht werden.
Colony: Derekh Beit Lehem 7. Geöffnet täglich 12-2 Uhr, Reservierung: 02-6729955