Schoa

Hitlers Mitwisser

von Ludger Heid
und Tobias Kaufmann

Peter Longerich ist keiner, der sich mit sensationellen Thesen bekanntmacht. Wenn man den Historiker verstehen will, muß man bereit sein, die Geschichte differenziert zu betrachten. Das bedeutet aber nicht, daß Longerich sich scheuen würde, Klartext zu schreiben. Sein neues Buch Davon haben wir nichts gewußt ist ein gutes Beispiel dafür. Die Behauptung, die Titel des Buchs ist und von vielen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg vorgebracht wurde, weist Longerich zurück. Natürlich habe man sich bis zu einem gewissen Grad vorstellen können, was mit den Juden passiert – schließlich habe das Regime seine Ziele offen propagiert und die Massenerschießungen von Juden in Osteuropa seien nicht geheim gewesen. So weit, daraus eine Kollektivschuldthese zu machen – wie Daniel J. Goldhagen es in Hitlers willige Vollstrecker tat – geht Longerich aber nicht. Die Vorstellung, nur in den Deutschen habe das Feuer eines eliminatorischen Antisemitismus gelodert, lehnt er ab. Ihn interessieren die Strukturen, die eine antisemitische Ausgrenzungspolitik ermöglicht haben und später zur »Endlösung« führten.
In seiner Untersuchung geht es auch um den feinen Unterschied zwischen Wissen, Ahnen und Verdrängen. Die Judenverfolgung fand öffentlich statt, das Wissen darüber war in der Bevölkerung weit verbreitet. »Allerdings hielt das Regime konkrete Fakten, etwa über die Vernichtungslager, streng geheim«, sagt Longerich, Direktor des Forschungszentrums für den Holocaust und Geschichte des 20. Jahrhunderts am Royal Holloway College der Universität London. So sei eine diffuse Atmosphäre entstanden, in der sich der einzelne Bürger oft aus Selbstschutz weigerte, die Informationen zusammenzufügen.
Der real existierende Nationalsozialismus verstand sich von Anfang an als Ausdruck eines einheitlichen Volkswillens. Das galt besonders in der »Judenfrage«. Unter den Bedingungen einer diktatorischen Politik sollte keine Diskrepanz zwischen Regime und Volk entstehen. Indem die Nationalsozialisten ihre repressive »Judenpolitik« durch inszenierte Maßnahmen öffentlich praktizierten, machten sie das Volk, das es ohne Aufschrei zuließ, zu Mitwissern, verstrickte es in die Staatsverbrechen, machten die Deutschen zu Komplizen. Peter Longerich räumt ein, daß die Bevölkerung die Novemberpogrome von 1938 zwar hingenommen, aber einen »erheblichen Widerwillen« vor allem gegen die Gewalttätigkeiten und Zerstörungen ausgedrückt habe. Er stellt daher die These auf, das Regime habe ab 1942 aufgrund der Gerüchte über die »Endlösung« seine Propaganda zur »Judenfrage« zurückgefahren, zugleich sei den Deutschen aber stets verdeutlicht worden, daß sie »Mittäter« sind – eine Mischung, die das Volk noch stärker ans Regime band. Der 59jährige beruft sich unter anderem auf die geheimen NS-Stimmungsberichte, die Eberhard Jäckel und Dov Kulka 2004 herausgegeben haben. Auch die Protokolle der täglichen Konferenzen in Goebbels Propagadaministerium, die in Moskauer Archiven lagerten, seien wertvoll gewesen, sagt Longerich. 2001 hatte er in seinem Buch Der ungeschriebene Befehl deutlich gemacht, daß die Ziele Hitlers bekannt gewesen seien – einen direkten Befehl zur »Endlösung« habe es deshalb nicht gebraucht.
Die Novemberpogrome von 1938 verdeutlichen die These von den »Mitwissern«. Die Deutschen als Kollektiv wurden in die Verbrechen einbezogen, wenn auch nicht als aktive Teilnehmer, doch sehr wohl als Zuschauer – als »Bystanders«, wie Raul Hilberg das Verhalten genannt hat. Gemeint sind diejenigen, die dabeistehen, die anwesend sind, ohne teilzunehmen und im eigentlichen Sinne keine »Zuschauer« sind, eher »Schaulustige«. Viele, die die brennenden Synagogen und die zerstörten Geschäfte sahen, die durch die Straßen Richtung Bahnhof eskortierten Juden oder auf Lastwagen verladene Menschen wahrnahmen, sahen aber nicht hin, sondern weg.
»Juda verrecke!«, prangte jahrelang überdeutlich von den Litfaßsäulen. Hatten sich die deutschen Bürger an den Stürmer-Jargon gewöhnt, ohne noch weiter darüber nachzudenken? In all dem, was an antijüdischer Propaganda verlautbart wurde und sich vor aller Augen öffentlich gegen die Juden vollzog, war die Weichenstellung für die Vernichtung des Judentums erkennbar, wenn man wörtlich nahm, was man hörte, wenn man die logischen Schlußfolgerungen aus dem zog, was man las und sah. Wer den ersten Deportationen im Oktober/November 1938 tatenlos zugesehen hatte, der regte sich nicht mehr auf, als ab 1941 die letzten deutschen Juden aus den Städten Richtung Osten abmarschierten.
Während das Regime bei der Ingangsetzung der Deportationen einige logistische Probleme zu lösen hatte, äußerte die deutsche Bevölkerung weder (erwähnenswerten) Unmut noch gab sie auch nur Interesse an den Verschleppungen zu erkennen. Der Popularität des Regimes schadeten sie offenbar in keiner Weise. Gleichgültigkeit und Apathie gegenüber der antijüdischen Politik und damit gegenüber dem Schicksal der jüdischen Nachbarn waren die weit verbreitete Haltung. Die Entrechtung der Juden und ihre systematische Ermordung fand statt. Doch niemand war beteiligt.
Gleichwohl hat Longerich in seiner quellengesättigten Untersuchung einen nennenswerten »Unwillen« der Bevölkerung ausgemacht, die radikalen Verfolgungsmaßnahmen zu billigen. Da diese Einstellung dem Regime nicht verborgen bleiben konnte, wurde der propagandistische Aufwand für die »notwendige Judenpolitik« je nach Lage verstärkt, mitunter, wie am Boykott-Tag am 1. April 1933 zu beobachten war, gewaltsam durchgesetzt. Dem Regime sei es während des Krieges nur noch »mit äußerster Mühe« gelungen, so Longerichs Fazit, das äußerlich wahrnehmbare Verhalten der Bevölkerung in der »Judenfrage« so zu steuern, daß es sich als populäre Zustimmung zur offiziellen Politik darstellen ließ. Aber war das wirklich so? Longerich sagt, daß die Anstrengungen zur Ausrichtung der Bevölkerung auf die »Endlösung« ab 1942 »endgültig zum Fiasko« geraten seien. Positive Konsequenzen für die betroffene Opfergruppe, das wissen wir, hatte dieses »Fiasko« nicht. Zu Longerich paßt, daß er sein Buch als Forschungsergebnis sieht, nicht als endgültige Wahrheit. Über seine These darf man, muß man diskutieren.

peter longerich: »davon haben wir nichts gewusst!« die deutschen und die judenverfolgung 1933-1945
Siedler, München 2006, 448 S., 24,95 €

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