von Jutta Sommerbauer
Wie von Zauberhand setzt sich die Herde in Bewegung. 900 Schafe und ein paar Ziegen, die gerade noch auf dem Wiesenhang in den Überresten des Sommers gegrast haben, trotten los und blöken dabei lauthals. Hans Breuer gibt seiner Hirtenhündin Fuchs einen kurzen Befehl. Die braunen Wollknäuel werden zusammengetrieben. Der Tross zieht los. Und Hans Breuer stimmt eines seiner selbst komponierten jiddischen Lieder an: die »Judenburg-doine«, ein Hirtenklagelied in Moll. »Haj duna-duna, haj duna-duna-duna, kimt shojn, shejfelech, geschvint! Trajb di lemer, majn kind!« Wenn er singt, würden ihm seine Schafe besser folgen, sagt der Schäfer.
Hans Breuer ist der Chef der Herde, der Hirte. Ein hochgewachsener 53-Jähriger, auf dessen Kopf ein brauner Filzhut mit einer breiten, geschwungenen Krempe sitzt. Breuers Outfit ist ein eklektizistischer Mix: indischer Schal, rote Allwetter-Goretex-Jacke, schwere Bergschuhe und ein mannshoher, geschwungener Hirtenstab.
Es ist später Herbst im Joglland, eine gute Autostunde nördlich der steirischen Landeshauptstadt Graz. Das Laub der Bäume taucht die Landschaft in ein Grün-Braun. Zwischen sanften Hügeln sitzen herausgeputzte Ortschaften, die Birkfeld, Wenigzell und Gschaid heißen. Kleine Orte mit bunten Häusern, einem Kaufmannsladen und einer Kirche in der Mitte. Deren kleinere Schwestern, die sogenannten Marterl, stehen am Wegesrand: Wegpfeiler für katholische Heilige. Hans Breuer zieht mit seiner blökenden Schafherde an den Marterln vorbei. Wie jeden Herbst, der »Goldenen Saison der Schäfer«, weil dann die Weideflächen nach der Erntezeit zur freien Verfügung stehen. Breuer ist Wanderschäfer, die Herde das ganze Jahr auf den Beinen. »Der Weg ist das Ziel«, das ist seine Devise. Mitte September ziehen die Schafe von der hoch gelegenen Sommerweide los, um den Winter in den Niederungen zu verbringen. Dort, wo die Schneedecke weniger dick ist. »Ich bin ein Wanderer zwischen den Kulturen«, sagt Breuer. »Zwischen der modernen, urbanen und der alten ländlichen Kultur.« Trotz des Handys in der einen und einem Hirtenstab in der anderen Hand klingt das nicht aufgesetzt.
Hans Breuer ist das, was manche einen Aussteiger nennen. Jemand, der der Erfolgsgesellschaft den Rücken gekehrt hat. Aus Gründen, die zumindest in Österreich nicht gerade alltäglich sind: »Schon als Kind habe ich verstanden, dass es in diesem Land nie eine Denazifizierung gegeben hat«, sagt Breuer. Sein Vater ist Jude, seine Mutter war während der Nazizeit im Widerstand tätig. Die Gestapo folterte sie. »Als ich sechs Jahre alt war, traf sie einen ihrer Folterer auf der Straße in Wien.« Von Kindesbeinen an habe er sich bedroht gefühlt – von den Nazis, die im Österreich der sechziger Jahre weiter an den Einfluss sichernden Schalthebeln saßen. »Ich wollte nicht Teil dieser Gesellschaft sein. Ich bin in diesem Land geboren, aber ich fühle mich nicht als Teil dieses Staates.«
Seit 25 Jahren ist Breuer Wanderschäfer. Sein Handwerk hat er in Deutschland gelernt. Noch immer genießt er es, sein eigener Boss zu sein. Und bei »Grauzonen« selbst zu entscheiden: Überall dort, wo es nicht verboten ist, darf die Herde passieren. Manchmal müsse man verhandeln. »Das klappt meistens. Die Besitzer sehen, dass die Schafe diszipliniert sind und wir ihr Land nicht zerstören.« Wenn ein Bauer partout nicht will, müsse man das akzeptieren. Und auf der Straße? Da dürfen die Schafe sowieso laufen, solange sie auf einer Spur bleiben, erklärt Breuer. »Wir haben das Recht, uns wie jedes Auto auf der Straße zu bewegen. Nur die Autobahn ist für uns verboten.«
Dass Breuers Suche nach seinen jüdischen Wurzeln ausgerechnet auf einem schwedischen Bauernhof begann, verwundert bei der Liebe zur Natur nicht weiter. Als ein Finne ihm ein jiddisches Lied vorspielte, war er hingerissen. »Dieses Lied hat mich berührt. Ich wusste nicht, dass es jiddisch ist, aber ich wollte mehr davon«, erinnert sich Breuer. Er, der weder Noten noch Hebräisch lesen konnte, lernte einfach die Lieder auswendig, mehr als 100. »Ich habe mir den Text von Tonträgern und Kassetten runtergehört und versucht, meine Aussprache immer mehr zu verbessern.« Sein Vater hingegen war lange der Meinung, dass Jiddisch keine Sprache, sondern ein Jargon sei. Hans Breuer trat an, ihm das Gegenteil zu beweisen. Über die Lieder hat Breuer seinen Zugang zur jüdischen Kultur gefunden und zur eigenen Familie. »Der Großvater meines Vaters hat Jiddisch gesprochen. Ich merke, wie stark ich damit verbunden bin.« Später begann Breuer, mit seiner Band »Wanderer« jiddische Musik mit orientalischem Einschlag zu machen. Viele der Konzerte finden in der österreichischen Provinz statt. Für Breuer, dessen Lieder oft Intoleranz und Verfolgung thematisieren, ein Weg, das Publikum mit der beinahe ausgelöschten Kultur des osteuropäischen Judentums zu konfrontieren. »Wenn ich darüber rede, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, dann sagen die Leute zehn Minuten lang kein Wort. Es ist eine Last, weil es nie aufgearbeitet wurde.« Offener Antisemitismus sei in Österreich zwar selten. Doch oft genug habe er schon gehört, »wer die Welt ruiniere« oder dass die Geschichte endlich ruhen solle. »Das hat man in Österreich schon in den späten 50er-Jahren gesagt.« Der österreichischen Geschichtsverdrängung ist eines seiner Lieder gewidmet: die »Judenburg-doine«, in der Breuer die steirische Stadt Judenburg besingt. Sie trägt das Jüdische in ihrem Namen, auf dem Wappen der Stadt prangt der Kopf eines mittelalterlichen Juden. Doch die heutigen Stadtbewohner möchten nicht gerne an das jüdische Erbe erinnert werden, glaubt Breuer.
Wenn die Sonne hinter den Hügeln versunken ist, wird es schnell dunkel im Joglland. In der Dämmerung treiben Breuer und Hirtenhund Fuchs die Herde auf ihr Nachtquartier, eine mit mobilen Drahtgittern umzäunte Weide, die die Helfer vorher errichtet haben. Nun können die Schafe in Ruhe grasen. Auf Hans Breuer wartet ein Kleinbus, der ihn zu seinem Nachtquartier bringt. Dort wird er nur ein paar Stunden bleiben. Denn schon morgen früh geht seine Wanderung weiter.