zuwanderer

»Hier schlafe ich ruhiger«

von Ralf Hübner

Sie hat zarte, helle, fast durchscheinende Haut. Ihretwegen hat sich Larissa Maksudova nicht mehr wohl gefühlt in Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan. In der früheren Sowjetrepublik sind Nationalisten und Islamisten auf dem Vormarsch. Es ist nicht mehr ungefährlich, Jude zu sein, mit heller Haut, blonden Haaren und blauen Augen in dem zentralasiatischen Land. »Viele Europäer sind aus Taschkent weggezogen, es ist unsicher geworden« sagt die 42jährige. »Ich hatte immer Angst, auch um meine Kinder.«
Larissa hat Taschkent verlassen. Jetzt sitzt die zierliche Frau in ihrer Dresdner Wohnung am Küchentisch und trinkt heißen Tee, nascht russisches Konfekt. Sie hat ein dunkles, weinrotes Shirt übergestreift und trägt enge Blue-Jeans. Nichts erinnert an den fernen Orient – nicht an ihr und nicht in der Wohnung. Ausgenommen vielleicht ein paar kleine Nippes-Figuren in usbekischen Trachten, die auf einem Schränkchen lustig musizieren, lärmen und feiern. Seit vergangenem Jahr wohnt sie mit ihrem Mann Rustam, der 16jährigen Tochter Albina und dem 20jährigen Amir in einem sanierten Mietshaus mit heller Fassade in Dresden-Cotta, einem Außenbezirk der sächsischen Landeshauptstadt. Sie fühle sich in Dresden zu Hause, sagt Larissa. Die Stadt gefalle ihr. Hier wolle sie bleiben.
Das war nicht immer so. Als sie im Oktober 2001 in Deutschland ankam, wollte sie am liebsten wieder zurück. »Ich habe jede Nacht geweint.« Da hatte sie noch das sonnige Taschkent im Kopf, eine Metropole mit zwei Millionen Einwohnern. Dort war sie einst glücklich. Ihr Mann Rustam besaß eine kleine, aber feine Baufirma und hatte gute Aufträge. Sie hatte Jura studiert und war zeitweise im Sozialministerium beschäftigt. »Wir haben gut gelebt«, erinnert sich Larissa. Ihre großen dunklen Augen leuchten. Materiell habe es keinen Grund gegeben auszuwandern. Aber mit der Unabhängigkeit Usbekistans 1991 sei eben alles kaputtgegangen. Der Nationalismus habe seither zugenommen, die politische Lage sei instabil geworden – obwohl sich Larissa durch die unverkennbar tatarische Abstammung ihres Mann etwas geschützt fühlte. Dennoch: »Man wußte nie, was am nächsten Tag passiert.« Mit dem Gesundheitswesen ging es bergab. Freunde und Verwandte verließen das Land. Viele seien nach Israel gegangen, erzählt Larissa. Aber dort wollte sie nicht hin. »Da ist Krieg.« Und so kam sie wie Bruder und Schwester nach Deutschland.
Eigentlich hatte sie von Baden-Baden geträumt. Alle Auswanderer aus ihrem Bekanntenkreis träumten vom mondänen Baden-Baden im schönen Süddeutschland. Doch dann wurde es Meerane in Westsachsen, eine Städtchen von 18.000 Einwohnern. Die Enttäuschung saß zunächst tief. »Alles war so klein. Man konnte nicht viel unternehmen.« Larissa war Großstadt gewohnt. Aber schon nach zehn Tagen ging es von Meerane nach Glauchau, in ein anderes Wohnheim. Dort gab es Sprachunterricht und erste Besuche von der jüdischen Gemeinde. In der usbekischen Heimat waren die Kontakte zur Gemeinde eher spärlich. In der Fremde wurde die Bindung enger. »So waren wir nicht ganz allein. Das hat uns Hoffnung gemacht«, sagt Larissa.
2002 kam die Familie schließlich nach Dresden, wenige Wochen bevor an der Elbe die Jahrhundertflut losbrach. Nachts wurden sie aus den Betten geholt. Hautnah rauschten die reißenden Wasser an der Haustür vorbei. Sie sahen die Menschen mit den Fluten kämpfen. Die neue Wohnung jetzt ist nicht weit vom Flüßchen Weißeritz entfernt, das seinerzeit vor allem für Unheil gesorgt hat.
In den vergangenen Jahren ist die Welt nach und nach wieder in Ordnung gekommen. Larissa hat Arbeit gefunden. Allerdings mußte sie zunächst feststellen, daß ihr Jura-Diplom in Deutschland nicht viel galt. »Ich hätte zwei Examen ablegen müssen. Das war zuviel, das war ausgeschlossen.« Und so jobbte sie zunächst als Küchenhilfe. Dann kam das Angebot für eine Ausbildung zur Medizinischen Fußpflegerin. Da hat sie nicht lange gezögert. Zwei Jahre hat die Umschulung gedauert. Im vergangenen August waren die letzten Prüfungen. »Meine Mutter wollte ohnehin immer, daß ich Ärztin werde. Der neue Beruf hat zumindest mit Medizin zu tun«, sagt Larissa. Jetzt träumt sie von einer eigenen Praxis – irgendwann. Ihr Mann Rustam drückt unterdessen weiter die Schulbank und macht ein Aufbaustudium.
Larissa ist zufrieden. Sohn Amir und Tochter Albina gehen aufs Gynmnasium. Albina engagiert sich. Sie ist stellvertretende Klassensprecherin und macht bei der Jugendarbeit der jüdischen Gemeinde mit. Sie geht zum Religionsunterricht, fährt in Winter- und Sommermachanot, arbeitet als Betreuerin. »Ein großer Teil ihrer Freizeit findet in der jüdischen Gemeinde statt«, erzählt die Mutter. Albina will später einmal für eine Hilfsorganisation arbeiten – oder vielleicht doch lieber etwas mit Design und Gestaltung machen. So ganz steht das noch nicht fest.
Klar jedoch ist für Larissa: »Vor allem für die Kinder war es gut, daß wir Usbekistan verlassen haben. Wenn sie jetzt abends ausgehen, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Ich schlafe ruhiger, seit wir hier sind.« Wie sehr Sachsen und Dresden mittlerweile zur Heimat geworden sind, hat Larissa bei einem Ausflug gemerkt. Bei einer Wanderung mit Freunden in der Sächsischen Schweiz gelangten sie versehentlich auf tschechisches Gebiet – nur mit dem alten usbekischen Paß in der Tasche. Erst als sie wieder sächsischen Boden unter den Füßen spürte, wurde sie ruhig. »Da habe ich das erste Mal gemerkt, daß ich jetzt in Dresden zu Hause bin.«
Die alte Heimat Taschkent läßt Larissa dennoch nicht los. An den Wochenenden und an Feiertagen gibt es oft heimatliche Speisen wie Manty oder Plov – Gerichte mit geschnetzelten Steckrüben und Hammelstückchen – oder Samsa, mit Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen. Noch immer gibt es lange nächtliche Telefonate mit Freunden oder Verwandten. »Etwas Heimweh bleibt«, sagt Larissa. »Für die Kinder ist das alles leichter.« Und irgendwann, so hofft sie, wird sie wieder zurückkehren können nach Taschkent, die schöne Stadt. Sie wird bekannte Straßen und Häuser wiedersehen und alte Freunde treffen. Aber sie wird als Besucherin kommen, als Touristin – und dann nach Dresden zurückkehren, in ihr neues Zuhause.

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