zuwanderer

»Hier ist alles gemächlicher«

von Fabian Wallmeier

Ein sonniger Herbstnachmittag. Lion Howitsch sitzt auf einer Bierbank vor der Alten Mensa der Mainzer Universität. Er stellt eine Flasche Limonade vor sich auf den Holztisch, rückt seine Lederjacke zurecht, hält kurz inne und beginnt zu erzählen.
Gleich nach dem Abitur hat er sich 1998 hier eingeschrieben. Weil Mainz nicht weit von seinem Wohnort Wiesbaden entfernt ist – und weil er Unis mag, bei denen die Institute nicht über die Stadt verteilt sind, sondern ihren eigenen kleinen Stadtteil bilden. Zuerst versuchte er es mit einem Soziologie-Studium, wechselte aber nach zwei Semestern zur Betriebswirtschaftslehre. »Nach dem achten Semester habe ich aber gemerkt: Das ist nicht das Wahre«, sagt der 27jährige kopfschüttelnd. Howitsch entdeckte seine Liebe zu Kunst, Philosophie und Literatur und entschied sich für ein Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Das begonnene Studium einfach aufgeben, wollte er aber auch nicht. Also beschloß er, beide Disziplinen als Hauptfächer in einem Magisterstudium zu belegen. »Es schadet ja nicht, auch das Wirtschaftsstudium in der Tasche zu haben«, sagt er lachend und massiert mit der linken Hand die Stoppeln seines Dreitagebarts.
Sechs Jahre zuvor sprach Howitsch noch kein Wort Deutsch. Am 11. Mai 1992 war er mit seiner Mutter und seiner Großmutter aus dem ukrainischen Mukatschewo nach Wiesbaden gekommen. Nach einer langen Zugfahrt über Prag kamen die drei zunächst am Frankfurter Hauptbahnhof an. »Es war spät abends, und wir hatten nur eine Adresse in Wiesbaden. Wir wußten nicht, daß S-Bahnen dorthin fuhren – und so haben wir uns ein Taxi nach Wiesbaden genommen. Das dürfte ganz schön teuer gewesen sein«, sagt Howitsch und grinst. Die erste Nacht verbrachten sie auf dem Wiesbadener Hauptbahnhof. Am nächsten Morgen meldeten sie sich beim Sozialamt und bekamen mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde bald eine Bleibe in einem einfachen Hotel, in dem die Stadt Zimmer für Immigranten angemietet hatte. In dieser Unterkunft, die mit der Zeit zu einem Asylantenheim wurde, sollten sie schließlich zwei Jahre lang bleiben.
Erste Erinnerungen an Deutschland verknüpft Howitsch mit der Wiesbadener Fußgängerzone. Er bestaunte die Menschen, ihre Kleidung und die Produkte in den Geschäften. Vieles davon kannte er bisher nur aus Katalogen, die er sich zusammen mit seinen Freunden in der Ukraine angeschaut hatte. »Es war sehr einschüchternd für mich. Auf einmal war ich hier, sah alle diese Dinge und fragte mich, ob ich zu all dem einen Zugang finden würde. Ich befand mich in einem gewissen Identitäts-Schock, der lange anhielt.«
Nach einem Deutsch-Intensivkurs kam er auf die Realschule, lernte dort schnell und schaffte es nach der neunten Klasse aufs Gymnasium. In der Anfangszeit, als er noch nicht so gut Deutsch sprach, verbrachte er die Pausen am liebsten mit anderen Immigrantenkindern, die er aus der Gemeinde kannte und die wie er Russisch sprachen. Aber nach und nach stellten sich auch Kontakte zu deutschsprachigen Mitschülern ein. »In der Schule merkte ich erst nach einiger Zeit, daß die Deutschen anders sind als ich«, sagt er bedächtig. Wenn Howitsch in seinen Erinnerungen forscht, plaudert er nicht einfach drauflos. Er nimmt sich Zeit, um über seine Formulierungen nachzudenken, damit sie möglichst präzise werden. »Ich war aus meiner Heimat einen viel direkteren Umgang miteinander gewohnt. Bei uns war es üblich, sehr laut und unmittelbar zu sprechen. ›Hey Alter, komm mit‹, hätte ich dort zu Freunden gesagt. In Deutschland ist alles viel gedämpfter. Hier sagt man eher: ›Ich gehe jetzt in die Kantine – hast du vielleicht Lust mitzukommen‹.«
Es dauerte eine Weile, bis Lion sich mit dieser Andersartigkeit arrangiert hatte. Anfangs versuchte er mit den deutschen Mitschülern so umzugehen, wie er es aus Muka- tschewo gewohnt war. »So hatte ich schnell den Ruf eines russischen Mafioso weg. Nicht ernsthaft, sondern mehr aus Witz. Ich spielte mit den Klischees«, sagt er und zieht mit der Handkante eine Grenze auf dem Tisch. Doch was einerseits lustig war und ihm im Umgang mit den Deutschen half, ließ ihn andererseits sein Anderssein umso stärker fühlen: »Ich gehörte nicht richtig dazu.«
In dieser Anfangszeit war die jüdische Gemeinde eine wichtige Stütze für Howitsch und seine Familie. Seine Mutter ist bis heute stark in der Gemeinde engagiert – sie arbeitet dort als Integrationsassistentin und hilft neu ankommenden Immigranten. Lion Howitsch hingegen nimmt inzwischen nicht mehr sehr aktiv am Gemeindeleben teil. Einmal im Monat geht er in die Synagoge und besucht manche Kulturveranstaltungen in der Gemeinde. »Ich ziehe mir das aus der Gemeinde und aus der Religion, was für mich positiv ist. Es gibt in der Gemeinde keinen Zwang, etwas zu machen – und das ist gut so. Ein erhobener Zeigefinger ruft bei mir gleich eine Abwehrhaltung hervor«, bekennt er. Wenn er in die Synagoge geht, fühlt er sich heimisch: »Die Gemeinde ist ein Ort, von dem ich ein Teil bin. Ich fühle mich dort sehr frei.«
Aus seiner Kindheit in Mukatschewo kannte er keine Diskrimierungen wegen seines Jüdischseins. »Bei uns konnte das Judentum viel offener gelebt werden als in anderen Teilen der Ukraine. Es gab jüdische Hochzeiten und andere Feste, für die wir uns nicht verstecken mußten.« Wenn er »bei uns« sagt, meint Lion Howitsch Transkarpatien, die Region im äußersten Westen der Ukraine, die an Rumänien, die Slowakei, Polen und Ungarn grenzt.
Auch wirtschaftlich ging es ihm und seiner Familie nicht schlecht. Die Mutter leitete einen kleinen Betrieb, in dem Stofftaschen produziert wurden. »Sie hatte sich gut mit dem System arrangiert«, sagt der Sohn. Trotzdem empfand sie das Leben in der Ukraine als bedrückend. »Für sie verkörperte der Westen die Freiheit, eine andere Form des Lebens. Deshalb hat sie immer den Wunsch gehabt, dorthin auszuwandern«, sagt Howitsch. Als sie dann erfuhr, daß es für Juden die Möglichkeit gab, nach Deutschland auszuwandern, fuhr sie nach Kiew zur deutschen Botschaft und stellte einen Antrag. Bis der bewilligt war und die Familie die Auswanderung vorbereitet hatte, verging ein ganzes Jahr. Dann endlich brachen sie in den Westen auf, Howitsch, seine Mutter und die Großmutter. Andere Familienmitglieder blieben zurück: Lions Vater hatte die Familie schon Jahre zuvor verlassen, und auch der Großvater mütterlicherseits blieb in Mukatschewo. »Er war als Offizier der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg in Berlin, und ich glaube, er wollte nicht nach Deutschland zurück.«
Erst im Sommer 2005 sah Howitsch seine Geburtsstadt wieder – mehr als 13 Jahre, nachdem er sie verlassen hatte. Das Wiedersehen war ein zwiespältiges Erlebnis für ihn. »Einerseits habe ich eine große Selbstverständlichkeit empfunden. Ich bin durch die Straßen gelaufen, und an jeder Ecke sind neue Erinnerungen in mir hochgekommen, die sich ganz nah anfühlten. Aber andererseits ...« Er murmelt und hält inne. Sein Blick schweift in die Ferne, mit Zeigefinger und Daumen zerdreht er abwesend einen Papierschnipsel. »Dort hat sich vieles verändert«, sagt er schließlich. »Es ist vieles rauer geworden, das Gefälle zwischen Arm und Reich ist stark gewachsen. Ich habe meine Heimatstadt als ein unglaublich provinzielles Loch empfunden, in dem alles viel schneller, pulsierender und unausgeglichener ist als hier.« Wieder zögert er einen Augenblick lang. »Hier ist alles gleichförmiger, gemächlicher und gesetzter. Nach einer gewissen Zeit wollte ich einfach zurück nach Deutschland«, sagt er und nickt bedächtig.

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