von Annette Kanis
Mit Moskau verbindet Marina Strechinskaja ihre Kindheit. Damals spielte sie noch mit Puppen, traf sich mit ihren Freundinnen, ging zum Tanzunterricht. Deutschland war unendlich weit weg – für sie ein Traumland, mit dem sie die märchenhafte Vorstellung verknüpfte, daß dort alles »gut und schön sei«. Und vor allem alles viel einfacher. So hatten es jedenfalls die Männer erzählt, die die Ausreisewilligen vor der deutschen Botschaft in Moskau ansprachen, hundert Dollar für Informationen verlangten und dann nur noch mehr Phantasiegebilde hervorriefen: Daß der Bruder weiter studieren könne, daß sie selbst in eine Schule mit anderen russischen Kindern käme und schnell Freunde finden würde.
Wenn sich die heute 19jährige an ihre ersten Monate nach der Einreise erinnert, wird ihr bewußt, daß von dem Märchen wenig übriggeblieben ist. Aber auch, daß sie gewachsen ist an der Aufgabe, sich mit 14 Jahren in einem fremden Land, in einer völlig neuen Umgebung einzuleben. »Hier in Deutschland bin ich ganz schnell erwachsen geworden«, sagt die zierliche junge Frau. Ein Satz, der in Variationen noch häufiger im Gespräch fallen wird.
Geboren wurde Marina Strechinskaja im weißrussischen Minsk. Da ihr Vater als Militäringenieur 1989 nach Moskau versetzt wurde, ging die Familie mit. In den folgenden Jahren wanderten jedoch nach und nach alle Verwandten aus. Ohne der Familie etwas zu sagen, stellte schließlich auch der Vater den Ausreiseantrag. Als dann der positive Bescheid eintraf, hieß es, schnell Abschied zu nehmen.
»Ich habe mir immer vorgestellt, daß ein völlig neues Leben für uns anfängt«, erinnert sich Marina an die damaligen Träume. Das Weggehen sei ihr ziemlich leicht- gefallen. »Meine Eltern sind vor allem für meinen Bruder und mich ausgewandert, damit wir mehr Möglichkeiten im Leben haben, das zu machen, was wir wollen«, erklärt sie die Entscheidung des Vaters.
Traditionen und Verbindungen aber sind geblieben. An diesem Vormittag erinnern köstliche Blinis an die alte Heimat. Marinas Mutter hat die kleinen Pfannkuchen vorbereitet, Marina reicht sie mit israelischem Humus, kocht einen Tee. Der Wohnzimmertisch ist liebevoll gedeckt mit zartem Porzellan, rosa Rosen mit Goldrand. Nur einige Kinderfotos an der Wand über der Couchgarnitur erinnern an die Zeit vor der Ankunft in Nordrhein-Westfalen, sonst nichts.
Mit ihren Eltern und dem fünf Jahre älteren Bruder kam Marina zunächst nach Wülfrath, einer Kleinstadt zwischen Wuppertal und Düsseldorf. Für die Wunschorte der Familie – Köln und Düsseldorf – hatte sie eine Absage bekommen. »In Wülfrath waren wir die einzige jüdische Familie.« Ein Sonderstatus, der das Einleben nicht leichter machte. Auf ähnliche Voraussetzungen stieß die Familie nach ihrem Umzug ins nahegelegene Erkrath. Auch hier gab es in der näheren Umgebung weder eine jüdische Gemeinde noch organisierte Strukturen für Zuwanderer. In der Schule fühlte sich Marina als Exotin.
»Ich wußte natürlich immer, daß ich jüdisch bin, aber früher habe ich das nicht so wahrgenommen.« Hier in Deutschland habe dies plötzlich eine Rolle gespielt, jeder habe sie gefragt, warum sie nach Deutschland gekommen sei. Zuerst zurückhaltend, dann immer selbstbewußter habe sie sich und ihren Glauben erklärt. »Die Lehrerin hat es gefördert, daß ich offen über mein Judentum spreche.« In der Schule hatte sie sich für den evangelischen Religionsunterricht entschieden. Mittlerweile besucht Marina regelmäßig den jüdischen Religionsunterricht der Düsseldorfer Gemeinde. Ihr Wissen übers Judentum sei seitdem deutlich gewachsen. »Für mich war Gott immer da, und ich habe immer mit Gott gelebt, aber über die Geschichte des Judentums habe ich nicht allzuviel gewußt.« Auf ihre Wunschschule, das Gymnasium, kam Marina auf Umwegen. Ihr Zeugnis aus Rußland sei wirklich gut gewesen, und so habe für sie festgestanden, daß sie auch in Deutschland auf ein Gymnasium gehen werde. Doch der Schulleiter sah das anders. Schließlich mußte die damals 14jährige auf einen Schlag nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch und Französisch lernen, um mit ihren Mitschülern mithalten zu können. Also zunächst Realschule. Französisch wurde zu ihrem Lieblingsfach, hier begann sie in der siebenten Klasse ebenso bei Null wie ihre Mitschüler. Deutsch lernte sie vor allem zu Hause.
»Auf der Realschule habe ich schnell verstanden, daß ich kämpfen muß.« Kämpfen darum, die eigene Meinung vor den anderen in der Klasse zu sagen, auch wenn die Grammatik noch nicht ganz stimmte, kämpfen um Freundschaften, um die eigene Persönlichkeit, die nur noch wenig mit dem Kind aus Moskau zu tun hatte.
Aus der Notwendigkeit, Sprachen zu lernen, ist längst eine Vorliebe geworden. Seit diesem Schuljahr, dem ersten auf dem Gymnasium, lernt Marina Spanisch. Und außerdem Hebräisch. Sie hätte Russisch als Leistungskurs wählen können, doch sie entschied sich dagegen. Auch wenn die Eltern sie davon überzeugen wollten, daß sie es sich mit der Muttersprache etwas einfacher machen könnte in diesem Notensystem. Außerdem wünschten sie sich, daß die Kinder zu Hause auch russische Bücher lesen würden. Doch Marina liest die russischen Schriftsteller lieber in Deutsch. Ihr Blick schweift aus dem Fenster. »Ich will Neues lernen«, sagt sie entschieden.
Neues kennenlernen will sie auch von der Welt. Nach Moskau ist sie bisher erst ein einziges Mal zurückgefahren. Sie hat ihre Großmutter in Israel besucht, war in Portugal und Spanien im Urlaub und ist durch Österreich, die Schweiz und Italien gereist. In ihrem Zimmer hängt eine große Weltkarte – eine Weite, die ihr in der Kleinstadt manchmal fehlt. Auf dem Schrank liegen Zapfen aus einem spanischen Wald. »Spanien hat mein Herz getroffen«, sagt sie voller Begeisterung. »Hier sieht man immer fröhliche Menschen. Sie sind so warmherzig, sie merken, wenn du Hilfe brauchst – und sie lachen viel.« Ihr Blick nimmt etwas Verträumtes an, wenn sie von dem warmen Wetter dort, der beeindruckenden Landschaft und den Begegnungen erzählt.
In Moskau lebt heute noch Marinas beste Freundin aus Kindheitstagen. Die beiden schreiben sich, und in diesem Jahr will die Freundin auch zu Besuch kommen. »Die Bekannten dort, das geht alles verloren, die Menschen kommen und gehen«, sagt Marina, und es klingt etwas abgeklärt für eine Schülerin. Gefragt nach der Bedeutung von Heimat antwortet sie, dies sei für sie ein variabler Begriff. In Weißrußland geboren, in Moskau aufgewachsen und in Deutschland erwachsen geworden, verbindet sie mit Heimat heute keinen konkreten Ort, sondern ein Gefühl: »Ich denke, Heimat ist dort, wo es Menschen gibt, die mich lieben.«
In diesen Tagen macht Marina ein Schulpraktikum im jüdischen Kindergarten in Düsseldorf. Früher, noch in Moskau, wollte sie Kinderärztin werden, heute träumt sie davon, eines Tages ein Haus für obdachlose Kinder zu gründen. Mag sein, daß sich dieser Traum so wenig erfüllen wird wie der vom Märchenland Deutschland. Aber Marina wird weiter daran wachsen.