Selten ist eine Pressemitteilung der Universität Münster auf ein so großes Medienecho gestoßen: ein 19jähriger hat Ende 2005 an der Hochschule seinen Magister gemacht, ausgerechnet im als kompliziert und langwierig geltenden Fach Philosophie. Das »Wunderkind« Aaron Voloj Dessauer hatte mit 16 ein Juniorstudium begonnen, das es Schülern ermöglicht, Scheine an der Universität zu er-
werben, die später in einem regulären Stu- dium anerkannt werden. Ab der 12. Klasse besuchte er in Freistunden und nachmittags Vorlesungen und Seminare. Für Philosophie hatte den Juden Dessauer ein Lehrer im evangelischen Religionsunterricht begeistert, den der Schüler freiwillig zusätzlich besuchte.
Dessauer gilt nicht als hochbegabt und hat noch nie einen Intelligenztest gemacht. »Am wichtigsten waren meine Eltern, die mich immer unterstützt haben«, sagt er. Seine Magisterarbeit über moralische Dilemmata hat er auf Englisch geschrieben. »It is nothing short of brilliant« stand neben der Note »sehr gut« darunter – geschrieben vom prominenten Rechtsgelehrten Alan M. Dershowitz, der Dessauers Arbeit betreute. Der Juniorstudent hatte zu dem Harvard-Professor während eines Urlaubs in Boston per E-Mail Kontakt aufgenommen. Seit September 2004 forscht Dessauer bei Dershowitz an der Harvard School of Law. Er promoviert dort und an der Universität Münster derzeit in Rechtsphilosophie, will danach Jura in den USA studieren und Anwalt, Bürgerrechtler oder Professor werden – vielleicht auch alles zusammen. Im Interview spricht der »Überflieger«, der als 18jähriger auch schon einmal für die Jüdischen Allgemeine geschrieben hat, über sein Leben als deutsch-jüdischer Student an einer ameri-kanischen Eliteuniversität.
Herr Dessauer, wie fühlt man sich als Medienstar?
dessauer: Ehrlich gesagt fand ich das Interesse an mir etwas merkwürdig. Meine Studienleistung verdient nicht soviel Aufmerksamkeit. Ich habe ja nichts Besonderes voll- bracht, was die Menschheit irgendwie voranbringen würde. Ich habe nur meinen Magister gemacht.
Aber die wenigsten schaffen das mit 19 Jahren, insofern scheint das Interesse schon verständlich. Fühlten Sie sich eher bedrängt oder eher geschmeichelt von dem Rummel?
dessauer: Weder noch. Ich habe zwar telefonisch ein paar Dutzend Interviews gegeben, aber sonst habe ich glücklicherweise von dem ganzen Rummel gar nicht soviel mitgekriegt. Am Donnerstag war der Empfang in der Universität, Freitag bin ich bereits in die USA zurückgeflogen. Von dort aus habe ich die Texte in den großen Medien gelesen, klar, aber was sonst so erschienen ist, habe ich nicht genau verfolgt. Meine Eltern finden es natürlich toll. Für mich bleibt die größte Würdigung, daß ich in Harvard studieren darf.
Ist Ihre plötzliche Berühmtheit in Harvard registriert worden?
dessauer: Nein. Ich habe schließlich nicht überall rumerzählt, daß ich in Deutschland in der Zeitung stehe. Ich bin zwar auch hier einer der Jüngsten, aber generell wird mein Werdegang in Harvard ohnehin nicht als so anormal angesehen. Neulich war ich hier in der Gegend auf einer Feier und habe da Deutsche getroffen. Die kannten mich lustigerweise aus den Medien.
Sie gehen auf Partys?
dessauer: Natürlich. Das war übrigens das einzige, was mich bei einigen Texten über mich gestört hat. Da wurde so getan, als hätte ich keine Freunde und würde Tag und Nacht nur lernen. Das ist natürlich Quatsch.
Und nun sind Sie an einer der Eliteuniversitäten der USA, die unseren Hochschulen weit voraus waren. Haben Sie auch Nachteile gegenüber einer deutschen Universität entdeckt?
dessauer: Ich will nichts Negatives über Münster sagen, aber grundsätzlich gilt: Es gibt nichts, was hier schlechter wäre als in Deutschland. Die Bedingungen sind ganz anders. Man findet mehr Anerkennung als Student, die Kommilitonen sind sehr offen. Es ist sehr sinnvoll, daß alles zentral auf einem Campus liegt, dadurch entsteht eine andere Atmosphäre. Das ganze Campusleben gefällt mir sehr gut. Ich wohne nun mit Freunden zusammen, die ich schon vom letzten Jahr kenne. Der einzige Nachteil ist, daß ich in den USA mit 19 Jahren nicht volljährig bin. Dafür ist das Leben als Jude viel angenehmer.
Inwiefern?
dessauer: Bestimmt jeder dritte Student und ein noch größerer Anteil des Lehrpersonals in Harvard ist jüdisch. Es gibt hier alles, von ultra-orthodox bis atheistisch. Jude sein ist auf dem Campus, aber auch hier in der Region insgesamt, weniger abnormal. Keinen interessiert’s. Es gibt diese merkwürdigen Vorstellungen nicht. In den USA kann ich mir meine Identität aussuchen. In Deutschland wird meine Identität von außen bestimmt. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft muß man sich immer irgendwie definieren oder abgrenzen, zum Beispiel dadurch, daß ein Großteil der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion stammt und ganz anders denkt als wir deutschen Juden.
Hat sich Ihr Verhältnis zum Judentum in Harvard geändert?
dessauer: Überhaupt nicht. Ich bin genauso säkular, wie ich es vorher war. So etwas spielt auf dem Campus überhaupt keine Rolle. Ich besuche einen Kurs in jüdischer Literatur, gemeinsam mit einem Freund, der mir kürzlich erzählte, er schätze an diesem Kurs, daß er dort viele andere jüdische Studenten treffen kann. Da habe ich zum ihm gesagt: »Spinnst du? Du wohnst doch mit sechs Leuten zusammen, die alle Juden sind!« Das hatte er gar nicht mitbekommen.
In Europa ist es ganz normal, daß Juden sich zur Politik Israels verhalten müssen. An den meisten deutschen Universitäten, gerade bei Geisteswissenschaftlern, hat man den Eindruck, daß nach wie vor eine »linke« Sicht herrscht, die mindestens israelkritisch ist. Wie ist das in Harvard?
dessauer: Ich glaube, daß in Amerika insgesamt aus verschiedenen Gründen ein viel faireres, ausgewogeneres Israel-Bild herrscht. Selbst Linke haben hier erkannt, daß Hamas eine Terrororganisation ist, daß auch Arafat ein Terrorist war. Ein wirklicher Unterschied ist, daß hier wohl niemand auf die Idee käme, mich auf Israel anzusprechen, nur weil ich Jude bin. Hier bin ich der Deutsche.
Dennoch promovieren Sie mit der Hilfe von Alan Dershowitz, einem der profiliertesten Unterstützer Israels. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?
dessauer: Er ist nach wie vor sehr wichtig für mich. Dershowitz ist ein brillanter Akademiker, ein toller Anwalt, der als Bürgerrechtler Überragendes geleistet hat. Außerdem ist er ein lieber, herzlicher Mensch. Wir haben ein offenes, freundliches Verhältnis, ich kenne seine Familie und kann mich immer an ihn wenden. Er ist eine ganz große Stütze und mein großes Vorbild.
Das Gespräch führte Tobias Kaufmann.