von Manuela Pfohl
Es gibt selbstgemachte Auberginencreme, Brot, Konfitüre, Kekse und Kaffee. »Greif zu«, bittet Viktoria Levieva und nimmt Platz am winzigen Tisch in ihrer kleinen Wohnung mitten in einem Rostocker Neubauviertel. Hinter ihr der Küchenschrank und der Herd. Vor ihr Bett, Tisch und Sessel. Alles in allem mißt das Zuhause der 74jährigen nicht mehr als 20 Quadratmeter. »Aber was heißt das schon«, winkt sie lachend ab. »Hauptsache, ich bin glücklich.«
Am 6. Dezember 1997 setzte sie sich in Sankt Petersburg in den Zug nach Deutschland. Im Gepäck ein paar Bratpfannen, Kochtöpfe und die Sorge, ob es die richtige Entscheidung war, in Rostock noch mal ganz von vorn anzufangen. Damals war sie nicht glücklich.
»Antisemitismus hat es in der Sowjetunion schon immer gegeben«, erklärt die alte Dame. »Aber nach 1990 wurde es ganz schlimm. An den Metrostationen gab es Versammlungen von Rechten. Ich habe mich unter die Zuhörer gemischt. Ich habe gesagt, daß es unrecht ist, was über die Juden geredet wird. Aber ich habe mich nicht getraut zu sagen, daß ich selber Jüdin bin.« Nachdenklich schaut sie auf den Kalender, der Ansichten von St. Petersburg zeigt. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich glaube, ich habe gar nicht darüber nachgedacht, daß es mich selber betrifft. Ich habe mich eher als Homo sovietikus gefühlt.«
Freunde und Verwandte schüttelten damals die Köpfe, wenn Viktoria aufzählte, welche guten Seiten das Leben in Rußland hat. »Du bist verrückt«, meinten sie, und immer öfter mußte sie Abschied nehmen. Die einen gingen nach Israel, die anderen in die USA, viele nach Deutschland. »Los, stell wenigstens schon mal den Ausreiseantrag«, hatte ihre Schwester gedrängt und Viktoria hatte sich in die lange Schlange vorm Konsulat eingereiht. Als sie 1993 ihren Bescheid erhielt, war sie gesundheitlich nicht auf dem Posten und traute sich die Ausreise nicht zu. Also legte sie die Genehmigung in den Schrank, sagte keinem etwas davon und kümmerte sich nicht weiter darum. Als jedoch 1997 Post von der Botschaft kam und man ihr mitteilte, daß sie entweder gleich ausreisen müsse oder nie, entschied sie sich schweren Herzens zu gehen. »Was soll ich sagen, ich habe meine Stadt eben doch geliebt.« Ein trauriger Abschied.
Seit dem lebt Viktoria in Rostock. Jeden Nachbarn im Haus kennt sie inzwischen. Einige sind wie sie aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Anja zum Beispiel, die gerade Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten vorbeibringt. 89 Jahre ist sie alt und Wolgadeutsche. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. »Wenn Sie etwas über Viktoria schreiben wollen, dann müssen sie unbedingt erwähnen, daß sie eine großartige Frau ist, die sich ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit um andere kümmert«, erklärt Anja.
»Wirst du still sein«, schimpft Viktoria und wird ein bißchen verlegen.
»Wenn man so viel erlebt hat wie ich, dann weiß man zu schätzen, wenn es einem gut geht. Und dann hilft man eben anderen. Das ist doch ganz normal«, sagt sie. »Meine Eltern waren auch so.«
Als Viktoria 1932 in Leningrad geboren wird, ist ihr Vater ein überzeugter Kommunist. »Ich erinnere mich, daß immerzu nur über Politik geredet wurde, als ich ein kleines Kind war.« Ein angepaßter Ja-Sager ist der Vater allerdings nicht. Er arbeitet als Ingenieur, die Mutter als Chemikerin. Er schimpft über Schluderei im Betrieb und die Tatenlosigkeit der Genossen. Die Mutter sagt, mach dich nicht unglücklich. »Während der Repressionszeit ab 1934 reichte nämlich ein falsches Wort, und schon konnte man abgeholt werden. Ich weiß noch, welche Angst meine Eltern hatten, wenn die Transporter der Geheimpolizei auf der Straße hielten und wieder jemanden mitnahmen.«
1939 ist Viktoria sieben und ihre Mutter meint, das Mädchen brauche ein Klavier. »Es war so ein Traum von ihr. Alle gut gebildeten Töchter lernten Klavier spielen. Also hatte Mutter seit Jahren gespart, jede
Kopeke dreimal umgedreht und immer alles auf die Bank gebracht. Und dann begann der Krieg und alle Leute hoben schnell ihr Geld ab. Mutter wollte auch hin, aber Vater verbot es ihr. Unsere Heimat braucht das Geld jetzt mehr als wir, sagte er. So einer war das.«
Dann die Leningrader Blockade. »Oj, das ist auch so eine Sache, wenn ich daran denke«, winkt Viktoria ab. »Manchmal frage ich mich, wie wir das überstanden haben.« Kälte, Hunger und Angst sind in ihrem Gedächtnis geblieben von diesem Stück Kindheit in den Jahren 1941 und 42. Es ist die Zeit, in der das Mädchen jeden Brotkrumen schätzen lernt. »Manchmal«, sagt sie nachdenklich, »krampft es mir das Herz zusammen, wenn ich sehe, in welcher Verschwendung wir heute leben.« Die Jungen könnten das nicht verstehen, meint sie. Aber sie selbst würde niemals ein Stück Brot wegwerfen. Erinnerung an die Blockade, in der die Leningrader von einem satten Bauch nur träumen konnten. »Einmal wollten wir Bekannte besuchen, und ich sehe es noch wie heute vor mir, wie die ganze Familie in der Wohnung lag und verhungert war. Eine schlimme Zeit.«
Viktoria hat Glück. Während ihr Vater an der Front ist, finden sie, ihre jüngere Schwester und die Mutter Unterkunft in einem Internat weit im Osten des Sowjetreichs. »Was soll ich sagen, wir haben den Krieg überstanden. Ich habe 1952 die Schule beendet und wurde als Jüdin an eine Fachhochschule abgeschoben, in der man Kältetechnik lernte.« Nicht gerade Viktorias Wunsch. »Aber immerhin waren dort viele Juden, und so haben wir manchmal auch über Geschichte und Kultur des Judentums geredet.«
Ihr Vater konnte das nicht verstehen. »Der hatte nur den Sozialismus im Kopf. Immerzu legte er sich mit den Genossen an, wenn etwas schief lief. »Mitte der 50er wurde er deswegen aus der Partei geworfen. Das hat er nicht verkraftet. 1957 ist er gestorben.« Viktoria geht andere, unpolitische Wege. In einem großen Konstruktionsbüro entwirft sie Heizungsanlagen. Sie ist voller Tatendrang und 30, als sie an einem Feiertag das erste Mal in die Leningrader Synagoge geht. Ein Besuch ohne Folgen. Die Religion hat nichts zu tun mit ihrem Leben. »Mir fehlte einfach der Draht dazu.«
Erst hier in Deutschland beginnt sie, sich mit dem Judentum und ihrer Beziehung dazu auseinanderzusetzen. »Letztes Jahr, als immerzu über das Kriegsende geredet wurde, habe ich viel über das Leben nachgedacht. Das war wichtig für mich. Dann war ich zwei Wochen in Bad Kissingen zu einer Erholungsreise, die vom Zentralrat organisiert wurde. Das war ein Erlebnis, so wie ich es nie zuvor hatte«, schwärmt Viktoria. »Es war plötzlich ein Gefühl der Freude, Jüdin zu sein.«
Daß in der Rostocker Gemeinde manches jüdische Gefühl erst noch wachsen muß, sieht sie nicht als Problem, sondern als Herausforderung. Als eine Aufgabe, an der sie mitarbeiten will. Im Seniorenclub, wo sie seit fünf Jahren Vorsitzende ist, im Krankenbesuchsverein Bikkur Cholim und wo immer sonst noch Hilfe gebraucht wird. »Es gibt so viele einsame und traurige Menschen.« Viktoria hilft ihnen bei Behördengängen, macht Telefonseelsorge und manchmal, wenn sie abends allein in ihrer Wohn-Schlaf-Küche sitzt, schaut sie auf die israelische Flagge, die an der Schranktür klemmt. Sie erinnert sich an die anderthalb Monate, die sie 1995 in Israel verbrachte, und sie träumt von den Reisen, die sie gerne noch machen möchte. »Ich will all das, was für mich vorgesehen ist«, sagt sie lächelnd. »Und noch ein bißchen mehr.«