von Lena Gorelik
Meine Verwandtschaft in Russland mochte P. sofort. Gemäß echt russischer Gastfreundschaft nahm sie ihn herzlich in die Familie auf und mästete ihn. Sie mochte ihn dann noch ein klitzekleines bisschen mehr, als sie erfuhr, dass er jüdisch ist.
Es war der zweite Abend unserer zweiwöchigen Petersburgreise, und meine Tante und P. stießen bereits zum dritten Mal mit Wodka auf Bruderschaft an. Als P. von seiner Familie erzählte, erwähnte er nebenbei deren Jüdischsein. »Er ist jüdisch?«, fragte meine Tante mit etwas zitternder Stimme. Ich wunderte mich, dass meine Mutter das in all den Jahren, die ich mit P. bereits zusammen war, noch nie erzählt zu haben schien. Ja, ich nickte. »Du bist jüdisch?«, fragte meine Tante zur Sicherheit noch einmal P. Ja, auch er nickte. »Er ist jüdisch!«, rief meine Tante triumphierend, sprang auf, lief um den Tisch herum und küsste P. stürmisch auf beide Wangen. Seitdem war sie noch ein bisschen netter zu ihm. Meine Tante ist noch nie in einer Synagoge gewesen.
Ich fand das nicht gut: Meine Tante sollte P. natürlich mögen. Lieben sollte sie ihn sogar, aber nicht um seines Jüdischseins willen, sondern als Mensch. Um seines Charakters, seiner inneren Werte, seiner Ausstrahlung willen. Jeder Mensch ist gleichwertig und sollte nicht nach seiner Herkunft beurteilt werden, davon bin ich überzeugt. Ich, die ich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus demonstrieren gehe.
Juden auf der ganzen Welt machen sich Sorgen, ihre Kinder könnten es wagen, einen nichtjüdischen Partner zu ehelichen. Aufgeklärte, säkulare Juden tun es stiller als orthodoxe, weil dies eigentlich ihrem intellektuell-philosophischen Weltbild widerspricht. Sie tun es aber trotzdem. In den USA machen es viele jüdische Organisationen offen zu ihrem Ziel, »Intermarriage« zu verhindern. Statistiken wie die, dass mehr als 50 Prozent der amerikanischen Juden mit nichtjüdischen Partnern verheiratet sind, jagen ihnen Angst ein.
Jüdische Großmütter sagen dann Dinge wie: »Dein Großvater würde sich im Grab umdrehen!« Oder vielleicht schlimmer noch: »Sind denn sechs Millionen Juden umsonst umgekommen? Wie kannst du das deinem Volk antun?« Es ist schockierend zu erfahren, dass die Wahl meines Ehepartners nicht nur mich was angeht, sondern ein ganzes Volk. »Ich bin doch kein Rassist!«, möchte man ihnen antworten. Oder: »Was haben die sechs Millionen mit meiner Hochzeit zu tun?« Aber wir sagen nichts. Wir schweigen, weil wir nette jüdische Kinder sind, die ihren Großmüttern keinen Schmerz verursachen wollen. Wir sagen auch deshalb nichts, weil wir im tiefsten Grunde unserer Herzen denken, dass es doch nett wäre, einen Juden zu heiraten. Nach all den Beziehungen und Affären mit Gojim schließlich Kinder zu haben mit einem jüdischen Mann. Mit einem von uns.
Eines der kräftigsten Argumente gegen »Intermarriage« lautet, man dürfe das jüdische Volk, die jüdische Religion nicht aussterben lassen. Es wird meist von torakundigen und toratreuen Menschen propa- giert, die »Intermarriage« sogar als »stillen Holocaust« bezeichnen. Es sind oft dieselben, die auf die Barrikaden gehen, sobald der Begriff »Holocaust« den Juden entzogen und fremdverwendet wird. Lassen wir mal die intellektuelle Fragwürdigkeit dieser Diskussion beiseite. Aber sollten die Torakundigen nicht wissen, dass Gott uns in ebendieser Tora versprochen hat, das jüdische Volk werde ewig währen? Und was ist mit Moses, unserem Urvater, der Zippora heiratete, die keine Jüdin war? Was ist mit Esther, die wir an Purim bejubeln? War ihr Mann, König Ahaschverosch, etwa jüdischer Abstammung? Und war Ruth nicht eine Konvertitin?
Es gehe auch darum, erklären uns die kopfschüttelnden Großmütter, die gläubigen Orthodoxen und selbst unsere liberalen Eltern, die jüdische Religion an die Kinder weiterzugeben. Religion, welche Reli-- gion? Wir russisch-jüdischen Kinder haben außer Gefilte Fisch, Tumbalalajka und Erzählungen unserer Großeltern keine Religion mitbekommen, und das ist leider ein Phänomen, das sich sowohl in der Diaspora als auch in Israel weit über die russischsprachige Bevölkerung hinaus erstreckt.
Ich lebe mit P., einem echten, 100-prozentigen Juden zusammen, wie meine Oma stolz ihren Freundinnen bei Seniorenveranstaltungen der Gemeinde erzählt (leider Gottes sind wir noch nicht verheiratet). Aber unsere Religionsausübung besteht vorwiegend aus ein paar hübschen Chanukka- und Schabbatleuchtern, die wir im Wohnzimmer verteilt haben.
Es geht um den Menschen, und nicht um seine Religions- oder Volkszugehörigkeit, sage ich laut, aufgeklärt wie ich bin. Zu aufgeklärt für Religion. Aber ganz leise denke ich mir und verscheuche den Gedanken sofort: Schon gut, dass P. Jude ist.
Die Autorin, 1981 in St. Petersburg geboren, lebt als Schriftstellerin in München. Im März erscheint im Verlag SchirmerGraf ihr neues Buch »Verliebt in St. Petersburg. Meine russische Reise«.