von Hanne Foighel
Das Judentum ist ein Glaube des Handelns. Es besteht in erster Linie aus gewissen Prinzipien und Anleitungen für das tägliche Leben. Die Herausforderung für das moderne Judentum – und den jüdischen Staat – liegt darin, diese Prinzipien und Handlungsanleitungen auf die moderne Welt zu übertragen.
So jedenfalls beschreibt Otniel Schneller, Abgeordneter der Partei »Kadima«, das Thema, das ihm als Parlamentarier am meisten am Herzen liegt. Der 57-jährige Schneller bezeichnet sich als »religiösen Zionisten«. Er trägt die gehäkelte Kippa, lebt mit Frau und vier Kindern in der Siedlung Ma’ale Michmas in der judäischen Wüste und war selbst zwischen 1983 und 1986 Vorsitzender der Siedlervereinigung »Yesha«, bevor er zehn Jahre lang die Sicherheitsabteilung im Transportministerium leitete. Erst vor zwei Jahren wurde Schneller zum ersten Mal in die Knesset gewählt. Schon nach kurzer Zeit gelang es ihm, eine geradezu revolutionäre Gesetzesvorlage vom Parlament absegnen zu lassen: Organspenden sollen fortan auch für Religiöse ermöglicht werden. Ein jahrelang schwelender Streit ist damit beendet und eine riesige Kluft zwischen religiösen Prinzipien und dem wachsenden Bedarf an Organspenden in Israel geschlossen.
Der Gesetzesvorlage gingen monatelange Verhandlungen mit Rabbinern voraus, denn es galt, scheinbar unvereinbare Auffassungen zu versöhnen – über die Frage nämlich, wann genau der Tod eintritt. Und mit welcher Sicherheit das entschieden werden kann. Das neue Organspendegesetz beruht auf einer neuen Methode, den klinischen Tod festzustellen, die auch halachisch akzeptabel ist. Zum ersten Mal ist es nun auch Orthodoxen erlaubt, Organe zu spenden. »Die Halacha hat sich immer um angemessene Lösungen für ganz gegenwärtige Probleme bemüht«, sagt Schneller. »Mit der Lösung, die wir gefunden haben, wird eine Organspende zur Mizwa, zur religiösen Pflicht.« Denn schließlich erfülle man die wichtigste Aufgabe des Judentums: Pikuach Nefesch. Die Rettung eines Lebens.
Einige religiöse Autoritäten in Israel vertraten die medizinisch überholte Auffassung, dass der Tod mit dem Herzstillstand einträte. »Ist kein Atem – und damit kein Herzschlag – mehr festzustellen, dann ist der Tod eingetreten.« So lautete bislang die traditionelle Auffassung. Deshalb gäbe es, so Schneller, im Hebräischen eine so enge Verbindung zwischen dem Wort für Atem, »Neschima«, und dem für Seele, »Naschama«. Dieser Auffassung hat Schneller immer vehement widersprochen. »Die moderne Medizin gibt uns die Möglichkeit, einen Patienten nach einem Herzstillstand wiederzubeleben«, sagt Schneller. »Ist aber der Hirnstamm tot, dann können wir nichts mehr zur Wiederbelebung unternehmen.«
Seit 20 Jahren akzeptieren die religiösen Autoritäten in Israel das Prinzip, dass der Tod mit dem Hirntod eintritt. »Die Frage der Organspende beschäftigt ja nicht nur Juden«, sagt Schneller. »In vielen Kulturen, wie der japanischen, indischen oder drusischen, werden Organspenden bis heute rigoros abgelehnt, da sie deren Glauben grundsätzlich widersprechen.« Darum ging es in Israel gar nicht. Die wirkliche Debatte entbrannte um die Frage, wie verlässlich der Hirntod festgestellt werden kann. Sind Irrtümer mit Sicherheit auszuschließen? Kann man sich darauf verlassen, dass Ärzte Organe nicht zu früh entnehmen, weil sie einen Patienten ohnehin aufgegeben haben? Genau weil diese Frage nicht gänzlich und zur Zufriedenheit der religiösen Autoritäten geklärt werden konnte, habe jahrelang »tiefes Misstrauen zwischen den Rabbinern und den Medizinern geherrscht«, meint Schneller. »Natürlich möchte niemand einer Person Organe entnehmen, die noch lebt, deshalb war es so wichtig, eine für beide Seiten verbindliche Definition zu finden.« Mit Hilfe modernster Technologie ist jetzt ganz zweifelsfrei festzustellen, dass wirklich keine Hirnaktivität mehr zu verzeichnen ist.« Das neue Organspendegesetz verpflichtet zu einer Überprüfung der Hirntätigkeit durch CFM (Cerebral Function Monitor), einer Technologie, bei der »mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass doch noch Hirntätigkeit vorhanden ist.« Nunmehr ist es auch Religiösen möglich, sich als Organspender eintragen zu lassen – oder die Organe ei-nes Verwandten spenden zu können.
»Im Judentum widersprechen Ethik und Moderne einander nicht«, sagt Schneller. In Israel sind die religiösen Autoritäten tonangebend in ethischen Debatten. Auch in der Diskussion über die Möglichkeit von Or-ganspenden waren sie es, die die Suche nach akzeptablen Kriterien für eine eindeutige, auch halachisch akzeptable Feststellung des Hirntods vorangetrieben hatten.
»Jeder Mensch hat ein anderes Verständnis von Religion«, sagt Schneller. Für ihn aber ist es vor allem wichtig, der Religion im täglichen Leben einen hohen Stellenwert einzuräumen. Nur sieht er das Judentum nicht bloß als individuelle Verpflichtung, sondern auch als eine für sein Land und seine Gesellschaft. Der Bürger habe nicht nur das Recht, sondern geradezu das Privileg, zur Verbesserung seiner Gesellschaft beizutragen. Die Kluft zwischen religiösen Auffassungen und den Anforderungen des modernen Lebens zu verringern, sieht Schnel- ler als seinen eigenen Beitrag an.
Seit Jahrzehnten wirken religiöse Autoritäten in Israel ganz prominent daran mit, Antworten zu finden, die auch der Entwi-cklung der modernen Medizin förderlich sein können. Ganz im Einklang mit dem biblischen Auftrag: »Seid fruchtbar und mehret euch«, hat Israel als eines der ersten Länder ohne Ausnahme (beispielsweise auch für gleichgeschlechtliche Paare und alleinerziehende Mütter) künstliche Be-fruchtungen zugelassen. Eine solche Behandlung wird von den rabbinischen Autoritäten ebenfalls als »Pikuach Nefesch«, die Rettung des Lebens, betrachtet.
Während christliche Kleriker und Politiker in den USA immer noch darüber diskutieren, ob Wissenschaftler auch mit embryonalen Stammzellen arbeiten dürfen, haben Israels Rabbiner dieser Forschung schon vor langer Zeit ihren Segen erteilt. Nach der Auffassung der Halacha beginnt menschliches Leben erst 40 Tage nach der Empfängnis in dem Moment, in dem sich das befruchtete Ei im Uterus einnistet. Im Gegensatz dazu definiert das Christentum die Zeugung als den Beginn menschlichen Lebens. Nicht zuletzt wegen des Einklangs mit den Auffassungen der Halacha ist es israelischen Forschern bereits seit Jahren möglich, an der Spitze der Stammzellforschung zu stehen.
Als Knesset-Abgeordneter will Schneller sich schon bald weiteren Aufgaben widmen, die eine Versöhnung zwischen religiösen Prinzipien und den Anforderungen der modernen Welt dringend erfordern. Eine davon wird schon seit Jahren leidenschaftlich diskutiert: Sollen auch Ultraorthodoxe den obligatorischen Wehrdienst leisten? Bislang waren Schüler einer Jeschiwa – sehr zum Un- willen der säkularen Bevölkerung – davon befreit. Sie konnten sich auf Artikel 36 des Nationalen Verteidigungsdienstgesetzes berufen, nach dem »verbunden mit den Anforderungen der Bildung, der Sicherheit oder der nationalen Wirtschaft, aus Familiengründen oder aus anderen Gründen« eine Freistellung gewährt wird. Das »Tal-Gesetz« erlaubt einigen Jeschiwa-Studenten, die ihre Studien bereits abgeschlossen haben, auch den Wehrdienst abzuleisten. Aber noch ist das Problem nicht ganz gelöst.
Auch in Fragen der Eheschließung und vor allem -scheidung ist eine Vermittlung zwischen der religiösen und säkularen Welt dringend notwendig. Ehen werden in Israel grundsätzlich von religiösen Autoritäten geschlossen und geschieden. In den letzten Jahren stieg die Scheidungsrate im jüdischen Staat immens – mit erheblichen Konsequenzen. Zwar dürfen beide Seiten ihre Zustimmung zu einem Scheidungsbrief (Get) verweigern. Verweigert die Frau, hat dies jedoch keine Konsequenzen. Nach einer bestimmten Zeit wird der Get ohnehin ausgestellt. Verweigert aber der Mann, gerät die Frau in die Position einer »Aguna«. Sie darf nicht erneut heiraten. Kinder aus neuen Verbindungen gelten als »Mamserim« – Bastarde.
Otniel Schneller findet, dass es an der Zeit ist, neue kreative Wege zu finden, um eine auf dem Boden des Religionsgesetzes stehende Lösung zu finden, die gleichzeitig den sozialen Veränderungen in einer modernen Gesellschaft gerecht wird. »Es ist immer noch die größte Stärke des Judentums«, strahlt er, »sich am Ende doch an neue Erfordernisse anpassen zu können, ohne Jahrtausende alte Regeln zu brechen.«