mekom tora

Herz, Hoffnung, Heidelberg

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen von einem jungen Mann, der vor 106 Jahren hierher kam. Er kam, erfüllt von grenzenloser Hoffnung – Hoffnung auf eine herrliche Zukunft des Geistes, ein brillantes internationales Gelehrtentum und auf eine neue Art von Judentum. (...)
Mein Urgroßonkel, der Student, der seine Anmeldung zur Promotion 1902 mit Jossel Klausner unterschrieb, wurde später als Joseph Klausner Professor an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Die Jahre, die er hier in Heidelberg verbrachte, waren vielleicht die glücklichsten seines Lebens. Eine Zeitlang hatte er sein Herz in Heidelberg verloren. Und in Heidelberg fand er so viel Hoffnung, dass es für ein ganzes Leben ausreichte: intellektuelle, persönliche, jüdische, universelle, nationale, erotische, humane, wissenschaftliche, spirituelle Hoffnung.
Er war bereits Schriftsteller und Redakteur, belesen, mit einer beinahe sinnlichen Liebe zur Literatur und einem stabilen Selbstwertgefühl gesegnet, als er als junger Mann von Russland nach Deutschland kam, um zu studieren. An den russischen Universitäten waren Juden nicht zugelassen. (...) In Heidelberg stand ihnen das Tor zu höherer Bildung und einer akademischen Karriere weit offen. Deutschland war Hoffnung.
»Eine neue Welt, der europäische Westen, enthüllte sich mir«, schrieb Klausner in seiner Autobiografie, die 1946 in Jerusalem und Tel Aviv erschien, unmittelbar nach den Schrecken der Jahre zuvor. (...) »Um richtig zu studieren, muss man in einer kleinen Universitätsstadt mit großartigen Professoren wohnen, wo es keinen Lärm und keine Störung gibt (...). Deshalb beschloss ich, mich auf den Weg zu machen nach dem berühmten Universitätsstädtchen Heidelberg, das höchstens 25.000 Einwohner hatte und beinahe ganz Mekom Tora war: voll von akademischen Institutionen, Professoren und Studenten.«
Mekom Tora: ein Sitz des Wissens. Ein Ort, an dem all die verborgenen Energien und der ganze Eifer, die talmudische Wort- und Geistesgewandtheit junger osteuropäischer Juden wie Klausner, Leib Yaffe, Nachum Goldman oder Saul Tschernichowsky sich auf das Studium der besten Tra- ditionen deutscher Gelehrsamkeit und Kunst stürzen konnten. (…)
In Heidelberg an der Wende zum 20. Jahrhundert durfte ein Jude (...) hoffen, Gedankenfreiheit in der tiefsten Bedeutung des Begriffs zu leben. Alles konnte in dieser stimulierenden Umgebung neu gedacht werden: der menschliche Körper und das Universum, Religion und Wissenschaft, Mann und Frau, gesellschaftliche Normen und die Lehren der Geschichte.
Aus tiefstem Herzen sagten Klausner und seine Kommilitonen Ja zu Heidelberg. Sie wussten, es war eine der liberalsten Universitäten Deutschlands. (…)
»Als ich an der Heidelberger Universität als ordentlicher Student angenommen wurde«, schreibt Klausner, »war mein Glück grenzenlos.« Er fährt fort in seiner Autobiografie: »Hier in Heidelberg begann eine neue Epoche in meinem Leben. Eine Epoche, überflutet von Licht und Glanz.«
Können Sie sich eine solche Seligkeit vorstellen? Philosophie bei Kuno Fischer zu studieren, Literatur bei Max Freiherr von Waldberg, semitische Sprachen bei Karl Bezold, Kunstgeschichte bei Henry Thode, dem Schwiegersohn Richard Wagners, noch mehr Philosophie bei Paul Hensel, einem Nachkommen Moses Mendelssohns. Alle Grenzen konnten hier über- schritten werden: Heidelberg, mekom tora. Heidelbergs Hoffnung.
Es war vor allem eine Hoffnung des Geistes. Heidelberg vermittelte diesen jungen Verehrern des Wissens eine Ahnung davon, was wahre, tiefe, objektive und engagierte Wissenschaft sein kann. Die kritische Rationalität eines freien, gebildeten Geistes. Das Lernen berauschte diese jungen russischen Juden, Liebhaber verbotener Bücher: Endlich hatten sie Flügel, mit denen sie fliegen konnten. (…)
In Heidelberg gab es eine tiefe Verwandtschaft zwischen rabbinischem Wissen und deutschem Gelehrtentum (...). Hier war das uralte deutsche und jüdische Anliegen lebendig, den Weg zu höherer Bildung so vielen wie möglich zu öffnen (...). Und hier schwebte der Geist Goethes über der grünen Landschaft Heidelbergs, erfüllte die Gedichte Tschernichowskys und die Klarheit von Klausners Stil: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.«

weltanschauung Und Heidelberg war grün und golden und lebendig zu dieser Zeit. Diese Generation hatte das Glück, und Heidelberg bot ihnen die Chance, das Judentum selbst neu zu bestimmen, es für das moderne Denken neu zu verorten. »In der allerersten Zeit in Heidelberg hatte ich einen Gedanken: dass das Judentum nicht nur eine Religion, sondern eine Weltanschauung ist; man kann nur aus Liebe an ihm hängen; man kann es nur aus Wissen lieben, und man kann von ihm nur etwas wissen, wenn man es mit den anderen großen Weltanschauungen vergleicht: mit dem Christentum, Hellenismus, Islam und Buddhismus.«
Vor diesem weit gespannten humanistischen Horizont eines Weltgelehrtentums entwickelte der junge Joseph Klausner ein bescheidenes Forschungsprogramm: »Vier Bücher über die vier großen Menschheitsgestalten zu schreiben: Jesus, Platon, Mohammed und Buddha.«
War mein Onkel ein bisschen zu ehrgeizig mit seinem Forschungsvorhaben? Vielleicht. Aber die jüdischen Gelehrten Heidelbergs hatten Klausner den Weg geebnet: Abraham Geiger mit seinem Leben Jesu, das an seine Geschichte des Judentums anschließt; Gustav Weil mit seiner gefeierten Übersetzung von Tausendundeiner Nacht, seiner Mohammed-Biografie und einer kritischen Einführung in den Koran. (…)
Die schönste aller Heidelberger Hoffnungen aber war der Tisch. Der deutsch-jüdische Tisch und das deutsch-jüdische Tischgespräch, die gemeinsamen Tischreden. »Nach Hensels philosophischem Seminar, das in seinem Privathaus stattfand und um 20 Uhr zu Ende war, gingen wir alle mit dem Professor in ein Wirtshaus und saßen mit unseren Bierkrügen bis elf Uhr nachts.« »Wir alle« hieß, dass sowohl Studenten als auch Studentinnen dabei waren, »denn es gab ausgezeichnete weibliche Teilnehmer, etwa Marianne Weber, die Frau von Professor Max Weber (...). Wir stellten alle möglichen Fragen – wissenschaftliche, moralische, soziale, literarische. (...) Das waren die wunderbarsten Stunden meiner Universitätsjahre.« Wenn ich an jenen Kneipentisch denke, den des Philosophieseminars und den des leidenschaftlichen jungen Dichters, zerreißt es mir das Herz. Ich versuche, mir diese reine, kurzlebige Ekstase vorzustellen, die Ideen und die Poesie, die Bücher und die funkelnden klugen Augen, als sie zusammensaßen bei Essen und Wein, bei Freiheit und Licht. Ich denke an diese frisch gebackene Zuhörerschaft der europäischen Aufklärung, Neuankömmlinge in der Welt des Wissens, Frauen, Männer (…) hier gab es alles, die Hoffnung, die Freiheit, die Texte, die Tanzfläche des Denkens. Und das ist der Punkt, wo ich nicht länger von Heidelbergs Hoffnung sprechen kann und mich Heidelbergs Verlust zuwenden muss. Unserem Verlust. Dem großen Schmerz, der bald darauf kam. (...)

tisch-redend Vielleicht sollten wir unser Augenmerk auf eine medizinische Dissertation richten, Colico dolore von Jacob Israel aus dem Jahre 1669. Eine so frühe deutsch-jüdische Dissertation – sie ist die erste ihrer Art in Heidelberg, womöglich die erste überhaupt an einer deutschen Universität –, die vom Schmerz handelt, hat etwas zutiefst Anrührendes. Übrigens beschäftigt sich die Abhandlung mit Bauchschmerzen. Mir scheint, als sei dieser Traktat über Magen-Darm-Erkrankungen, Überbleibsel der deutsch-jüdischen Vergangenheit, bedeutsam.
In gewisser Weise ist es aussagekräftiger, berührender als manch andere, vornehmere Ehrenbezeugung in Literatur und Dichtung und Kunst. Weil es einst gemeinsame deutsch-jüdische Bauchschmerzen gab. Weil es einen gemeinsamen deutsch-jüdischen Bauch gab. Weil es einen gemeinsamen Tisch gab. Weil es auf diesem Tisch Essen gab und Bücher. Und es gab Männer, die essend, trinkend, lesend und redend zusammensaßen: tisch-redend. Eine große Tradition beider Kulturen.
Der Tisch ist für immer verschwunden. Jetzt haben wir deutsch-jüdische Schreibtische, Podien, Bücherregale, Ausstellungsvitrinen, aber keinen Tisch mehr. (…)
Es ist Zeit, dass wir nach dem lange verlorenen Tisch suchen. Damit wir ihn – wenn wir es können – wieder aufstellen zwischen Deutschen und Juden. Zwischen Europäern und Israelis.

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