Henio ist beliebt. Er hat mehr als 2.700 Freunde auf der ganzen Welt, die ihm Nachrichten schicken, Videos senden oder sich sein Fotoalbum ansehen. Doch davon weiß er nichts. Henio ist seit 67 Jahren tot, ermordet im Vernichtungslager Majdanek. Seit dem 18. August 2008 jedoch ist der kleine jüdische Junge aus dem polnischen Lublin wieder lebendig – virtuell, dank Piotr Buzek. Der 22-Jährige hat Henio ein Profil im sozialen Netzwerk Facebook eingerichtet: Es enthält Angaben zur Person, Links, Freundesübersicht und viele Bilder. Henio kann auch E-Mails empfangen, die Buzek beantwortet. Denn er ist es, der versucht, sich in Henios Gefühlswelt hineinzudenken.
Buzek arbeitet im Lubliner Kulturzentrum Brama Grodzka und hat mit seinen Kollegen zusammen über Henios Leben geforscht. »Ich stelle mir vor, wie dieser kleine Junge die Welt um sich herum erlebt haben könnte«, sagt er. So wie am 29. September 2009: »Der Winter ist gekommen. Jeder Jude muss seinen Nachnamen auf einem Davidstern tragen. Viel hat sich geändert. Auf der Straße laufen deutsche Truppen. Mama sagt, dass ich mich nicht fürchten soll, dass alles immer gut wird. Immer?« Ein paar Internetfreunde haben dazu ihre Kommentare hinterlassen: »Immer«, schreibt Artur. »Nein, nicht immer«, hat Milosz hinzugefügt. Dazu gibt es ein Bild von deutschen Soldaten und ein weiteres, das einen kleinen Jungen mit dunklem Haar, großen Augen und einem breiten Grinsen zeigt. Er trägt ein weißes Hemd und eine kurze karierte Hose.
Die Bilder stammen aus dem Archiv des Lubliner Kulturzentrums. Es rekonstruiert seit 18 Jahren das jüdische Leben der Stadt östlich von Warschau. Einst wohnten dort mehr Juden als Christen. Im kommunistischen Polen kümmerte sich kaum jemand um diese Vergangenheit, sie war fast vergessen. Tomasz Pietrasiewicz, Leiter des Zentrums, ist erst nach der politischen Wende auf die reiche jüdische Geschichte seiner Stadt gestoßen. »Ich habe mich gefragt, wie das sein kann, dass ich so viele Jahre hier lebe und nichts über die Juden hier weiß.« Dort, wo das Kulturzentrum heute steht, befand sich einst das Tor zwischen dem jüdischen und dem christlichen Stadtteil. Tomasz Pietrasiewicz und seine Mitarbeiter suchen nach Schicksalen, nach Geschichten, nach Erinnerungen.
So sind sie auch auf Henio gestoßen. »Vor ein paar Jahren kam eine Verwandte von Henio aus Israel nach Lublin. Sie brachte uns ein Album mit Bildern von Henio – jedes Jahr hatte man ihn fotografiert. Auf der ersten Seite war er ein Jahr alt, das war 1933. Das letzte stammt aus dem Jahr 1939, kurz vor seiner Einschulung. Dann schlägt man noch eine Seite um, und da ist kein Bild mehr.«
lob und tadel Das Konzept, das Leben eines Schoa-Opfers im World Wide Web zu rekonstrieren, scheint bei den Nutzern des »offenen Profils« anzukommen. Die Zahl der Freunde ist in den vergangenen Monaten von 1.800 auf 2.700 gestiegen.
Einer von ihnen ist Luca Romano. Der 39-Jährige aus dem italienischen Brescia hat Politikwissenschaften studiert, arbeitet heute als Filialleiter eines Supermarkts. Er hat über das Projekt durch eine Wirtschaftszeitung erfahren und hält es für eine gute Idee, auf diese Weise an Schoa-Opfer zu erinnern. Allerdings spreche die Seite nur Menschen an, die sich schon vorher für das Thema interessiert hätten. Auch Andrea Fritz-Pinggera aus dem österreichischen Hard lobt das Facebook-Profil von Henio: »Es hat mich berührt, und ich finde diesen Weg eine sehr clevere Möglichkeit, Geschichte, Schicksale zu transportieren. Vor allem erreicht man eine andere Klientel.« Hjálmar Sveinsson aus dem isländischen Reykjavik hat noch keinen Kommentar auf Henios Profil hinterlassen. Doch der Journalist kann sich ganz genau an den Moment erinnern, als er zum ersten Mal ein Bild des Kleinen sah: »Sein Lachen war so unschuldig. Und das hat mich fast zum Weinen gebracht«, sagt der 51-Jährige. Er hält das Projekt für eine gute Möglichkeit, Menschen über die Geschichte zu informieren. Ganz so sieht das Thomas Heppener nicht. Der Direktor des Berliner Anne Frank Zentrums findet es »pietätlos, wenn für Ermordete Facebook-Profile eingerichtet werden«. Man solle nicht alles, was technisch im Rahmen der Erinnerungskultur möglich ist, auch umsetzen. »Facebook ist doch dazu da, Menschen im Heute miteinander zu verbinden.« Außerdem hätten die Benutzer nur eingeschränkt die Möglichkeit, die wahren Dimensionen des Holocaust zu erfassen.
Das Lubliner Kulturzentrum setzt dagegen auf die Möglichkeiten, die das Internet bietet. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verändere sich zusehends, denn es gäbe immer weniger Zeitzeugen. Deshalb stellen die Mitarbeiter ganz gezielt persönliche Schicksale ins Netz. »Wir wollten auf innovative Weise Geschichte vermitteln und mit Henio eine neue Zielgruppe erreichen«, sagt Initiator Piotr Buzek. Zu dieser neuen Zielgruppe gehört der junge Mann selbst. Er ist mit dem Internet groß geworden, nicht aber mit der Erinnerung an die Schoa. Henio hilft ihm, das nachzuholen: »Heute habe ich beschlossen, nie wieder aus Lublin wegzugehen«, schreibt dieser am 11. Oktober 2009. »Ich werde für immer hier bleiben an meinem Lieblingsplatz. Mit Mama und Pa Lublin.«