von Matthias B. Krause
Die Meldung in der New York Times vom 28. April 1903 klang alarmierend: »Die anti-jüdischen Aufstände in Kischinau, Bessarabien, sind schlimmer, als die Veröffentlichungen zugeben, die der Zensor zuläßt. Es gab einen gut durchdachten Plan für ein großes Massaker an Juden am Tag nach dem russischen Osterfest. Priester führten die Menge an, die schrie: ›Tötet die Juden’.« Die Juden in der Stadt nördlich des Schwarzen Meeres seien überrascht und »wie Schafe abgeschlachtet« worden, schreibt der Korrespondent weiter. 120 wurden nach seiner Schätzung getötet, 500 verletzt (später wurden die Zahlen nach unten korrigiert). »Die Stadt ist nun praktisch Juden-frei«, schreibt er. Gut zwei Jahre später fand in demselben Ort ein zweites Pogrom statt, dieses Mal starben 19 Juden, 56 wurden verletzt.
Zu den Menschen, die die Meldungen aus der heutigen moldawischen Hauptstadt damals in New York mit großer Sorge lasen, gehörten auch Jacob Schiff und Louis Marshall. Schiff wanderte aus Frankfurt am Main in die USA ein und stieg dort zu einem der führenden Finanziers an der Wall Street auf. Er wurde Direktor vieler bedeutender Firmen, unter anderem der »New York City National Bank« und der »Union Pacific Railroad«. Marshall, Sohn deutscher Einwanderer, machte sich als Jurist in Finanzkreisen einen Namen. Beide gehörten Anfang des 20. Jahrhunderts zu den Führern der jüdischen Gemeinde in den USA. Nach den Nachrichten von den Pogromen in Osteuropa taten sie sich zusammen, um die amerikanische Regierung zu drängen, ihren bedrohten Glaubensbrüdern beizustehen. Zu diesem Zweck gründeten sie mit Gleichgesinnten das »American Jewish Committee« (AJC), das am 11. November 1906 zur ersten Sitzung zusammentrat.
100 Jahre später hat sich an der Mission und der Arbeitsweise wenig geändert. Aufgabe sei es, »die Juden und das jüdische Leben weltweit zu schützen und zu stärken, indem es demokratische und pluralistische Gesellschaften fördert, die die Würde aller Menschen respektieren«, heißt es in der Selbstdarstellung des AJC. Es beschreibt sich als »Think Tank« und Lobby-Gruppe mit fast 150.000 Mitgliedern und Förderern, knapp 250 Angestellten und einem jährlichen Millionenumsatz. Das Wirtschaftsmagazin Forbes zählt das AJC zu den 200 größten gemeinnützigen Organisationen in den USA. Sie unterhält 33 Büros in Amerika und 20 Außenposten in der Welt. Seit 1998 gibt es ein Büro in Berlin.
»Man bezeichnet uns auch als das Außenministerium des jüdischen Volkes«, sagt AJC-Sprecher Todd Winer. Eine andere Umschreibung, die er gerne hört, stammt von der New York Times: Das AJC sei der »Dekan unter den jüdischen Organisationen« in den USA. Zu seinen stärksten Waffen gehören dabei Beziehungen zu den höchsten Ebenen der Macht. Das war schon 1906 so, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Schiff zum Beispiel spielte eine wichtige Rolle bei der Wahlkampagne für den US-Präsidenten Woodrow Wilson und fand später bei ihm ebenso ein offenes Ohr für seine Anliegen wie schon bei Theodore Roosevelt. 100 Jahre danach, zum großen Jubiläumskongreß des AJC in Washington im Mai, zieren das Programmheft die Namen von US-Präsident George W. Bush, UN-Generalsekretär Kofi Annan und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Motto: »You Have to Light the Future« (frei übersetzt: Du sollst die Zukunft scheinen lassen).
AJC-Sprecher Winer beschreibt einen zentralen Teil der Arbeit so: »Wo andere vor der Tür stehen und protestieren, ziehen wir es vor, drinnen in aller Stille unsere Gespräche zu führen. Kaum jemand hat so einen exzellenten Zugang zur Macht wie wir.« Vor großen Aufgaben schreckte das AJC dabei nie zurück. Schon einen Monat nach seiner Gründung macht es sich daran, die beim großen Erdbeben in San Francisco zerstörten jüdischen Institutionen wieder aufzubauen. Zwei Jahre später übernimmt es die Verantwortung für die Veröffentlichung des »The American Jewish Year Book«, bis heute ein zentrales Dokument jüdischen Lebens auf dem gesamten Globus. Das Komitee mischt sich aktiv in die Immigrationspolitik ein. Es erreicht, daß die US-Regierung einen Handelsvertrag mit dem russischen Regime wegen dessen antisemitischer Tendenzen annulliert. Louis Marshall, der 1912 die AJC-Präsidentschaft übernahm, setzt sich bei den Friedensverhandlungen in Paris 1919 dafür ein, daß der Schutz von Minderheiten ausdrücklich festgeschrieben wird. Hilfe für Juden in Not, großzügige Einwanderungbedingungen und Sanktionen für antisemitische Regierungen bleiben in den ersten Jahren die Hauptthemen des AJC. Aber auch vor der Bürgerrechtssituation im eigenen Land verschließt das Komitee seine Augen nicht. So hilft es etwa der »National Association for the Advancement of Colored People” (NAACP) 1934, in Washington ein Gesetz gegen die damals im Süden der USA verbreitete Lynch-Justiz durchzubringen.
Mit dem Aufstieg der Nazis in Deutschland richtet sich das Augenmerk der jüdischen Gemeinden zwangsläufig mehr und mehr auf Europa. Das AJC bildet die Speerspitze jener, die gegen die Unterdrückung der Juden in Deutschland protestieren. Mitte der 30er Jahre startet es eine breit angelegte Kampagne gegen die Nazi-Propaganda, zunächst in Lateinamerika, später auch in den USA und Europa. Nachdem sich die Nachrichten von einer systematischen Massenvernichtung der Juden in Deutschland verdichten, drängt das AJC bei der Konferenz 1943 auf den Bermudas, ein Programm zur Rettung der Glaubensbrüder im von Nazis besetzen Europa zu verabschieden. Das Treffen verläuft erfolglos.
1984 kommt eine vom ehemaligen Supreme-Court-Richter Arthur J. Goldberg geleitete Untersuchungskommission zu dem Schluß, daß die jüdischen Organisationen in den USA zu wenig taten, um die Greuel des Holocaust aufzuhalten. »Sosehr es mich schmerzt, das sagen zu müssen«, sagte Goldberg damals dem Magazin Times. »Wir haben nicht genug getan. Niemand hat genug getan.« Die 34köpfige Expertengruppe, die sich vor allem auf die Arbeit des AJC konzentrierte, führt als Gründe die fehlende Geschlossenheit unter den jüdischen Gemeinden in den USA an, ihre finanzielle und politische Schwäche und die Angst, antisemitische Strömungen in Amerika anzuheizen. So merkt der Bericht an, der damalige AJC-Vorsitzende Rabbi Stephen S. Wise »verweigerte alle Aktionen, die die pro-britische Regierung von Franklin D. Roosevelt bloßgestellt hätte«.
Mit der Gründung Israels beginnt auch für das American Jewish Committee ein neues Kapital. Von der Stunde eins an setzt es sich für die engen Beziehungen zwischen Tel Aviv und Washington ein, drängt US-Präsident Harry Truman, den Staat 1948 voll anzuerkennen und ein Waffenembargo aufzuheben. Das sollte nur der Anfang einer langen Reihe von pro-israelischen Kampagnen sein, die bis heute folgten. Bei den Vereinten Nationen in New York richtet das Committee eine »UN Watch« ein, die genau registriert, wenn sich die Weltorganisation seiner Meinung nach wieder einmal unfair gegenüber Israel verhält. Zur Lobbyarbeit gehört auch ein jährlicher »diplomatischer Marathon«, bei dem die AJC-Vertreter wenigstens 100 der 191 UN-Botschaftern einen Besuch abstatten. Stuart Eizenstat, in der Regierung von Bill Clinton einst Staatssekretär und später Chefunterhändler für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, sagt: »Keine jüdische Organisation in Amerika hat mehr zur Unterstützung Israels seit seiner historischen Wiedergeburt getan als das AJC.«
Doch ungeachtet aller Erfolge muß das American Jewish Committee auch Krisen überstehen. So waren Anfang 1990 die Spenden so stark zurückgegangen, daß 40 festangestellte Mitarbeiter entlassen wurden. Denn vom Staat bekommt die Organisation keinen Cent, wie das AJC stolz vermerkt. Die Organisation befand sich zudem in einer Sinnkrise, die Rabbiner Arthur Hertzberg, Autor des Buches The Jews in America so beschreibt: »Auf dem Gebiet des Antisemitismus hatten die Anti-Defamation-League und das kalifornische Simon-Wiesenthal-Center mit ihrem Krawall-Stil das Committee überholt.«
Gleichzeitig zog der »American Jewish Congress« die liberaleren amerikanischen Juden an, weil er es sich herausnahm, die israelische Regierung und den damaligen Premierminister Jitzhak Shamir zu kritisieren – etwas, was das neokonservative Committee nicht zuließ. Hertzberg sagt: »Das AJC blieb zurück mit der Frage: Was ist unsere Mission?« Die Frage ist mittlerweile beantwortet. Mitgliederzahlen und Spendenaufkommen gehen nach oben, sagt Sprecher Winer, gleichzeitig sind die politischen Fronten ein wenig aufgeweicht. Während die einen das American Jewish Committee in der neokonservativen Ecke se- hen, stuft das »Capital Research Center« es auf einer Ideologie-Skala von 1 (radikal links) bis 8 (neo-kapitalistisch-konservativ) als 2 ein. Winer sieht den Widerspruch Befriedigung: »Dann machen wir wohl etwas richtig und liegen genau in der Mitte.«