Es war ein außerordentlich heißer Juli. Und das nicht nur in Sachen Wetter. Für gewöhnlich ist es selten lange entspannt in Jerusalem, doch dieser Sommer könnte als ganz be-
sondere Periode der Unruhe in die Annalen der Heiligen Stadt eingehen. Erst tobten ultraorthodoxe Krawallmacher wegen eines Parkplatzes, dann barsten Scheiben und flogen Steine wegen der Festnahme von »einer der ihren«, zahlreiche Menschen wurden dabei verletzt. Die Stadt war tagelang in Ausnahmezustand.
Ausschreitungen Tamar El-Or ist Professorin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hebräischen Universität in Jerusalem und Expertin für Charedim, ultra-
orthodoxe Juden. Sie ist davon überzeugt, dass es viele Gründe für die jüngsten Ausschreitungen gibt. Zum einen seien die Risse innerhalb der Fraktionen noch nicht verheilt, die während der Bürgermeister-
wahlen im November 2008 entstanden wa-
ren. Damals hatten diverse religiöse Oberhäupter ihren Anhängern wegen Querelen innerhalb der verschiedenen Lager aufgetragen, nicht für den orthodoxen Kandidaten, sondern den säkularen Nir Barkat zu stimmen, der dann auch der Erste Mann der Stadt wurde. »Diese Wunden schmerzen noch sehr«, ist die Professorin sicher.
Weitaus bedeutender aber sei ein Trend innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft: »Die klare Tendenz, der Armut zu entkommen und sich langsam in Richtung israelische Gesellschaft zu bewegen, ist nicht mehr zu übersehen. Das mögen die extremen Gruppen natürlich gar nicht und wollen mit allen Mitteln am Alten festhalten. Sie waren die Tobenden auf den Straßen.« Die Expertin erklärt: Immer mehr Menschen, auch Männer, würden arbeiten gehen, anstatt lediglich zu studieren. Viele nähmen zudem mittlerweile die Leistungen der Stadt in Anspruch, gehen mit ihren Kindern wenn nötig zu sozialen Diens-
ten, zur Physio- oder Sprachtherapie und Ähnlichem. Die Gemeinde soll gestärkt werden. Außerdem ließen sie sogar ihre eigenen Leute in diesen Berufen ausbilden.
Extreme Minderheit Lange schon schwelte der Unmut ob dieser Tatsachen bei den Extremen. »Gepaart mit den un-
glücklichen Umständen der Festnahme der Frau an Eingang des Sozialamtes musste es krachen. Die Sündenböcke in Gestalt der Sozialarbeiter waren da.« Die Frau, die ihr Kind misshandelt haben soll, gehört zu einer antizionistischen Gruppe mit Namen Neturei Karta. Etwa zwei bis drei Prozent der Charedim zählen sich zu den extremen Gruppen, die alle Annäherung an Modernität ablehnen. Dazu gehören unter anderem jegliche nichtreligiöse Literatur, Zeitungen und Zeitschriften, das Internet, Cafés und Restaurants, aber auch bestimmte soziale und medizinische Versorgung wie Impfungen oder Bluttransfusionen.
Offenbar hassen die Extremisten alles Moderne so sehr, dass sie sich nicht davor scheuen, Menschen zu verletzen. Mehr als 20 Polizisten und Angestellte der Stadt mussten während der Ausschreitungen medizinisch behandelt werden. Die Ärzte im Hadassah-Krankenhaus, die den dreijährigen Sohn behandelten, wurden als »Doktores Mengele« beschimpft, »die Ex-
perimente an Kindern vornehmen«. Zu-
dem wurden Morddrohungen ausgesprochen. Immer wieder auch wird das unsägliche Schimpfwort »Nazi« gegen die – jü-dischen – Sicherheitskräfte geschleudert. »Es hat schon Tradition«, erklärt die Jerusalemer Spezialistin auf dem Gebiet. »Diese Menschen wachsen ohne reale Informationen, stattdessen mit Hass und Paranoia auf. Zionisten und moderne Israelis werden als Gojim, also Nichtjuden, und Nazis angesehen, nichts anderes. Das ist es, was sie von ihren Eltern gehört haben, und das ist, was sie ihren Kindern erzählen. So funktionieren die extremen Gruppierungen noch heute.«
Schweigende Mehrheit El-Or betont jedoch, dass der überwiegende Anteil der Ultraorthodoxen in Israel es nicht so sieht. »Man muss betonen, dass es sich um eine Minderheit handelt, die zwar sehr laut und sichtbar, doch auch sehr klein ist.« Um zu verstehen, dass die Mehrheit anders denke, bräuchte man sich lediglich die Koalition im Jerusalemer Rathaus anzusehen, die aus Säkularen und Orthodoxen besteht. »Und die ist stark.« Weder als Bürgermeister Barkat die Dienste der Stadt nach den Unruhen in zwei vorwiegend religiösen Stadtteilen ausgesetzt hat, noch als er sich vehe-
ment gegen die Demonstranten aussprach, drohte sie zu zerbrechen.
Dennoch gab es Kritik ob des Schweigens der religiösen Anführer, vor allem äußerte der Jerusalemer Polizeichef Aharon Franco seinen Unmut, dass sich niemand von ihnen öffentlich gegen die Gewalt ausgesprochen hat. El-Or kann das verstehen, weiß jedoch, dass das Schweigen in diesen Kreisen so viel heißt wie »sich dagegen aussprechen«. Es gäbe sehr komplizierte Verhaltenskodizes innerhalb der Gemeinschaft. Sie habe aus internen Kreisen er
fahren, dass die Rabbiner ihre Anhänger während der Turbulenzen mehrfach angewiesen hätten, nicht auf die Straße zu gehen und keine Gewalt anzuwenden. »Dass bedeutet sehr viel«, ist sie überzeugt, »denn normalerweise ist das Gefühl, ›sie ist eine von uns‹ stärker als alles andere.« Die langsame Öffnung jedoch scheint etwas zu bewirken. »Man will das Errungene, wie die politische Zusammenarbeit in der Stadt, auf keinen Fall verlieren.«
Moderne Die Tendenz zu mehr Modernität sei eindeutig da, die Anführer der Charedim jedoch seien zu schwach, es explizit auszusprechen, ist Professorin El-Or überzeugt. »Sie haben keinen Mut zu sagen: ›Geht raus zur Arbeit wie eure Brüder und Schwestern im Ausland, verdient Geld‹, weil die gesamte religiöse Führung vom Geld der Regierung lebt und es keine starke Gruppe von Innen gibt, die in Richtung eines modernen Lebensstils lenkt.« Dennoch meint sie, sei bereits eine Spaltung zwischen der Führung und ihren Schäfchen da, sie folgten nicht mehr so blind, und dieser Spalt wird immer größer. In Jerusalem werden Neuerungen wohl noch etwas länger dauern, in der Peripherie, also Beit Schemesch oder Modiin, hingegen, würden sich junge orthodoxe Familien bereits viel mehr trauen. »Wahr-
scheinlich werden irgendwann Fakten geschaffen«, meint El-Or, »die dann einfach nicht mehr zu ändern sind.«