Herr Stern, in Ihren unlängst in den USA veröffentlichten Memoiren »Five Germanys I have known« beschreiben Sie Ihre stets emotionalen Beziehungen zu »den Deutschlands«, von der Weimarer bis zur Berliner Republik. 1938 gelang Ihnen gerade noch die Flucht vor dem Terror der Nazis. Wie haben Sie sich mit Deutschland versöhnt?
stern: Als ich im Alter von zwölf Jahren in die USA ging, empfand ich Hass und während des Krieges fürchtete ich nur eines: den Sieg der Deutschen. An eine Rückkehr habe ich nach der Niederlage der Nazis nie gedacht. 1950 bin ich dann zum ersten Mal zurückgekommen, um an meiner Doktorarbeit zu arbeiten. Ich verbrachte meine Zeit in der Bibliothek in München und begrenzte meine Kontakte auf einen sehr kleinen Kreis von Menschen, auf die ich mich in politischer Hinsicht verlassen konnte – Freunde aus Kindertagen und Freunde meiner Eltern, alles Sozialdemokraten. Aber ich fühlte mich nicht wohl.
Mein Deutschlandbild begann sich zu verändern, als ich die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des gescheiterten Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 miterlebte. Ein Jahr- zehnt später, während der Kontroverse, die auf die Veröffentlichung des Werks »Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/1918« folgte, änderte ich dann meine Meinung vollständig. Der Autor des Buchs, Fritz Fischer, zeigte, dass Deutschland bereits ab dem Jahr 1912 einen Angriffskrieg erwogen hatte, da die Führung den industriellen Aufschwung des zaristischen Russlands fürchtete. Fischer hob die Kontinuität der imperialistischen deutschen Politik bis zu Hitler hervor. Diese neue Generation von Historikern, beispielsweise verkörpert durch Fischer, die Mommsenbrüder oder Hans-Ulrich Wehler, stand in Konflikt mit ihren konservativeren Vorgängern, die der Meinung waren, dass die Vergangenheit Deutschlands makellos und der Nationalsozialismus ein »Fehler« gewesen sei. Ihr Mut und das immer intensivere Studium der deutschen Geschichte ließen mich in das Deutschland der Gegenwart eintauchen und ihm näher kommen. Seither habe ich immer aktiver am deutschen Leben teilgenommen. Die Ernennung Willy Brandts zum Bundeskanzler und das darauf folgende Entstehen einer neuen Generation haben meine Gefühle noch weiter verstärkt.
Im Laufe der Jahre haben Sie mehr und mehr Zeit in Deutschland verbracht. Fühlen Sie sich heute in Deutschland zuhause?
stern: Nein, ich fühle mich zwar wohl in Deutschland, bin aber dort nicht zuhause, es sei denn, ich befinde mich in Gesellschaft von Freunden wie der sehr geschätzten, leider verstorbenen ehemaligen Herausgeberin der »Zeit«, Marion Dönhoff. Dafür habe ich mir aber eine enge Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Literatur bewahrt: Heine und Nietzsche sind mein Zuhause! Ich fühle mich stärker mit Europa verbunden. Als Kind habe ich mit meinen Eltern England, Holland, Dänemark, die Tschechoslowakei und vor allem Frankreich kennengelernt. Seit dieser Zeit betrachte ich Europa und nicht speziell Deutschland als meine Heimat. Auf gewisse Weise war ich meiner Zeit voraus und schon sehr früh Europäer.
Was halten Sie vom heutigen Deutschland?
stern: Über die wirtschaftlichen Probleme und die Schwierigkeiten der großen Koalition hinaus, ist das Weiterbestehen zweier äußerst verschiedener Teile Deutschlands das auffälligste Merkmal. Natürlich beeindruckt mich der Wiederaufbau der Städte, aber es gibt immer noch erhebliche Mentalitätsunterschiede. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war ich der Meinung, dass das Ausmaß, in dem man die Ostdeutschen berücksichtigen würde, ausschlaggebend für die Zukunft des neuen Deutschlands wäre. In der Geschichte war die Frage der Beziehungen zwischen den Deutschen stets entscheidend für das Gleichgewicht des Landes. Der psychologische Aspekt der Wiederannäherung der Deutschen erschien mir komplexer als die Erneuerung der ostdeutschen Wirtschaft. Sicherlich habe ich die Rückständigkeit der wirtschaftlichen Infrastruktur der ehemaligen DDR bei Weitem unterschätzt, aber was den ersten Punkt angeht, habe ich mich kaum getäuscht. Die führenden Politiker in Westdeutschland haben derart große psychologische Fehler gemacht, dass sich zahlreiche Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse fühlen. Die rassistische Gewalt der Skinheads und der Erfolg rechtsextremer Parteien im Osten sind die Folgen der Defizite der Wiedervereinigung.
Ist Ihrer Meinung nach nun Normalität in Deutschland eingekehrt?
stern: Deutschland wird nie ein »normales« Land sein. Außerdem stört mich dieser Begriff ohnehin. Die schreckenerregende Vergangenheit bleibt eine Bürde, aber man muss anerkennen, dass sich Deutschland auf einzigartige Weise mit sich selbst auseinanderge- setzt hat – und dies wesentlich besser, als seine Nachbarn mit ihrer weniger dramatischen Vergangenheit. Frankreich hat lange gebraucht, bevor es sich dazu bekannt hat, in Vichy mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht zu haben. Und die Österreicher lösen sich erst jetzt von der schönen Mär, sie seien die ersten Opfer Hitlers gewesen, von der sie sich jahrzehntelang haben einlullen lassen. Seit Mitte der 60er Jahre, mit der Fischer-Kontroverse und den Auschwitz-Prozessen, hat Deutschland damit begonnen, sich ernsthaft mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen und sich mit ihr zu konfrontieren. Die Deutschen haben viel gelernt und die Mehrheit ist gegen Autoritarismus gefeit. Und zum ersten Mal können die Deutschen stolz sein auf ihre politische Kultur, die aufrichtig demokratisch und die beste in ihrer Geschichte ist.
Man hat jedoch den Eindruck, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung, wenn nicht gar die Mehrheit, vor allem der ganz jungen Leute, sich heute ein für alle Mal von der Vergangenheit lossagen möchte.
stern: Sicher stimmen zahlreiche Deutsche Martin Walser zu, wenn sich dieser der ständigen Erwähnung von Auschwitz – der »moralischen Keule«, die seit 1945 über Deutschland schwebt – entledigen möchte. Viele Deutsche würden sich wünschen, nicht an die Verbrechen der Vergangenheit erinnert zu werden und sind der Meinung, dass sich die deutsche Geschichte nicht nur auf das Dritte Reich, welches letztendlich nur 12 Jahre bestand, beschränkt. Allerdings kenne ich auch andere Deutsche, die zum Beispiel im Verein »Gegen Vergessen - Für Demokratie« aktiv sind und dafür kämpfen, dass die Erinnerung bestehen bleibt, wie etwa durch das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Es besteht unleugbar eine Beziehung zwischen dem Holocaust und der Geschichte Deutschlands. Ich glaube nicht an die These, dass die Schoa ein Unfall war, aber ich glaube auch nicht, dass er unvermeidlich gewesen ist. Man kann ihn jedoch nicht ausklammern: Der Holocaust bleibt weiterhin im Mittelpunkt der deutschen Geschichte.
Nach mehreren antisemitischen Vorfällen in Ostdeutschland erklärte die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, vor kurzem, die aktuelle Situation sei vergleichbar mit der im Jahr 1933. Teilen Sie ihre Sorge?
stern: Diese Bemerkung erscheint mir absurd, insbesondere, was den historischen Vergleich angeht. Es ist richtig, dass der Antisemitismus, rechtsextremer wie linksextremer Natur, in ganz Europa um sich greift und dass es oft schwierig ist, zwischen legitimer Kritik an Israel und antisemitischen Angriffen zu unterscheiden. Der Antisemitismus ist eine Konstante in der europäischen Geschichte. Man muss folglich dem Einfluss der »Anti-Antisemiten«, den Dreyfusards unserer Zeit, Beachtung schenken. In Deutschland waren diese bis vor Kurzem aus offensichtlichen historischen Gründen stark. Aber in den letzten Jahren verzeichnen sie einen Rückgang. Die Kritik in Bezug auf die USA und Israel hat stark zugenommen. Nun zeigt die Geschichte, dass Antiamerikanismus und die damit einhergehenden Klischees – die Amerikaner sind Söldner und denken nur ans Geld – schnell in Antisemitismus umschlagen können. Es ist klar, dass seit der Pseudo-Wahl von George W. Bush im Jahr 2000 und seiner Weigerung zu Beginn seiner Präsidentschaft, sich im Nahen Osten zu engagieren, härtere Kritik gegen Israel geäußert wird. Und das häufiger. Es ist ebenso klar, dass die Palästinenser Sympathien gewinnen und dass die Antipathie in Bezug auf die USA, die Israel seit dem Einzug von Bush ins Weiße Haus bedingungslos unterstützen, selten so ausgeprägt war. Es scheint mir, als sei die Immunität, welche die Juden seit dem Krieg in Deutschland genossen haben, nun vorbei.
Man kann auch den Eindruck haben, dass sich immer mehr Deutsche als Opfer sehen und der Ansicht sind, ihre Vorfahren hätten während des Krieges genauso viel Leid erfahren wie die anderen Nationen. Die Grenze zwischen Henkern und Opfern scheint sich nach und nach aufzulösen. Wie sehen Sie das?
stern: Ich fühle mich sehr unwohl, wenn es um solche Ansprüche geht. Ein Beispiel ist die momentan in Berlin stattfindende Vertriebenen-Ausstellung. Es stört mich, dass sie in Berlin stattfand und dass alle Vertriebenen auf die gleiche Stufe gestellt wurden. Es handelt sich hier um ein europäisches Problem, und ich denke, dass es geeignetere Orte für eine solche Ausstellung gegeben hätte. Ich finde es gefährlich, dass zahlreiche Deutsche denken, sie seien in umfassenderem Maße Opfer als andere Völker, mit Ausnahme der Juden. Diese durch Jörg Friedrichs Werk »Der Brand« angeregte Tendenz, sich als Opfer zu sehen, ist insofern besonders ausgeprägt, als dass erst vor einigen Jahren das Schweigen gebrochen wurde. Bis vor Kurzem erinnerten nur die Vertriebenen aus dem Osten an die Leiden des Krieges.
Obwohl Kanzlerin Angela Merkel wieder bessere Beziehungen zu Washington herstellen möchte, scheint sich Deutschland zunehmend von den Vereinigten Staaten zu entfernen.
stern: Ich habe den Eindruck, dass eine neue Ära begonnen hat. Als Kennedy Präsident war, brachten die Deutschen den Amerikanern echte Bewunderung entgegen: Sie hatten verstanden, dass diese für Deutschland die Eintrittskarte in die moderne Welt waren. In der Nachkriegszeit wurde der Antiliberalismus, der das Herzstück der deutschen Ideologie bildete und demgemäß der Bildungsbürger oft die angebliche Kulturlosigkeit und den Materialismus der Amerikaner verachtete, so eng mit dem für Deutschlands Niedergang verantwortlichen National- sozialismus in Verbindung gebracht, dass er nach und nach durch die Anziehungskraft Amerikas verdrängt wurde. Die Freiheit, die Aufgeschlossenheit, die Mobilität und der Opportunismus Amerikas wirkten auf eine Mehrheit der Deutschen, denen es an Orientierung mangelte, anziehend. Außerdem beschützten die Vereinigten Staaten die BRD vor der UdSSR und waren ein wesentlicher Handelspartner. Die Deutschen empfanden auch große Dankbarkeit gegenüber Präsident Bush senior für dessen Unterstützung der Wiedervereinigung, bei der er von allen führenden westlichen Politikern am meisten Enthusiasmus an den Tag legte. Heute haben der Irak-Krieg, der offene Widerstand Schröders und dann die starken Gegenreaktionen der Neokonservativen in Washington auf beiden Seiten des Atlantiks Spuren hinterlassen. Abu Ghraib, Guantanamo und der Einsatz von Folter haben die Liberalen und Demokraten in Deutschland ebenfalls geprägt. Durch Bush und den Irak-Krieg haben sich Tendenzen, die es bereits zuvor in Deutschland und in ganz Europa gab, derart verfestigt, dass ich mir Sorgen um das eigentliche Konzept der westlichen Welt und sein wichtigstes Erbe, die Kultur der Aufklärung, mache.
Das Gespräch führte Olivier Guez.