von André Glasmacher
Senor Goldberg ist wieder da. Der Besitzer des spanischen Spezialitätengeschäfts in der Berliner Kantstraße freut sich. Eben ist ein mittelgroßer, rüstiger Herr mit einem freundlichen Lächeln in sein Geschäft gekommen – Erwin Goldberg. Der 94-jährige Rentner lebt gerade wieder einmal für drei Monate in Berlin, in der Stadt, in der er geboren wurde und die er 1938 unter abenteuerlichen Umständen verlassen musste.
Goldberg flüchtete vor einer drohenden Gestapo-Verhaftung nach Argentinien, »ohne eine einzige Mark, ich hatte nichts weiter als meine Erziehung«, erzählt er mit heiserer Stimme und nasalem Tonfall, wäh- rend er zwischen spanischen Weinflaschen, Würsten und Gebäck nach Mate-Tee sucht. Goldberg hatte noch 1935 eine Ausbildung am jüdischen Lehrerseminar beendet und am bekannten Sternschen Konservatorium Gesang studieren können. In der neuen fremden Heimat unterrichtete er dann an einer Urwaldschule, träumte von Berlin und hoffte, dass er eines Tages zurückkehren würde. »Ich hatte ein solches Heimweh, das glauben Sie gar nicht!«
Als er 1945 von den KZs erfährt und dass sein Bruder in Auschwitz ermordet wurde, schwor er sich aber, »nie wieder auch nur einen Fuß nach Deutschland zu setzen«. Bis 1972 hat er seinen Schwur gehalten. Er wird Argentinier, heiratet, arbeitet als Lehrer und singt als hauptamtlicher Kantor in einer Synagoge in Buenos Aires.
Im Sommer 1972 lag dann eines Tages ein Brief aus Deutschland im Briefkasten. Absender: die Berliner Senatskanzlei. Der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz lud ehemalige jüdische Bewohner Berlins zu einer einwöchigen Reise ein. Damals war Erwin Goldberg 60 Jahre alt. Er habe lange überlegt, mit Freunden diskutiert und schließlich »das Ganze als eine Geste der Versöhnung begriffen«. Und fügt hinzu, dass er verzeihen könne, aber nicht vergessen. Dennoch: »Alles, was ich in der Emigration geworden bin, verdanke ich meiner deutschen Erziehung, wie könnte ich da die Deutschen hassen?«
Als er schließlich in Berlin-Tegel aus dem Flugzeug steigt, war ihm schnell klar: Hier bin ich immer noch zu Hause. »In Berlin wurde ich geboren, hier habe ich gelernt und die besten Lehrer gehabt. Hier habe ich gelitten.« Wie im Fieber habe er damals die Stätten seiner Kindheit, gesucht, erzählt Goldberg, sei über den Kurfürstendamm flaniert, und einen Tag »rüber« in die DDR gefahren. »Diese Polizei- staat-Atmosphäre hat mich ganz stark an Nazi-Deutschland erinnert.« Erschüttert habe er auch vor den Ruinen der Synagoge in der Oranienburger Straße gestanden, wo er einst Albert Einstein Geige spielen sah und mit Leo Baeck Gottesdienste feierte.
Während des Besuchs erhält Goldberg das Angebot, als Musiklehrer an einer Weddinger Grundschule zu unterrichten. Er nimmt das Angebot an, lässt sich nach 35 Jahren Exil wieder in Berlin nieder und wird sogar noch mit 64 Jahren zum Beamten ernannt. »Einmalig in der gesamten Geschichte der BRD«, sagt er. Gleichzeitig hilft Goldberg in der Synagoge in der Pestalozzistraße als Kantor aus. »Immer, wenn Not am Mann war, haben die mich geholt.«
1996, vor elf Jahren, ist Erwin Goldberg dann wieder nach Buenos Aires zurück- gekehrt. Seine Frau sei nie richtig in Berlin heimisch geworden. »Sie vermisste das offene Herz der Menschen.« Und Goldberg ging das wohl ein wenig ähnlich. »Wenn ich in Argentinien Freunde sehen möchte, dann gehe ich einfach bei ihnen vorbei. Hier muss ich anrufen, dann blättern die erst mal in ihrem Terminkalender.«
Damals dachte Erwin Goldberg, es sei ein Abschied für immer. »Aber man soll nie ›Nie‹ sagen. Berlin lässt keinen los.« Deshalb kommt er, solange die Gesundheit mitspielt, jedes Jahr für drei Monate an die Spree. »Ich bin wie ausgehungert, nach Theater, Musik und Kultur. Das gibt es nur in Berlin.« Dieses Mal hat er seine Autobiografie mitgebracht. Wirbelstürme des Schicksals heißt das Buch, das bei einem kleinen Hamburger Verlag erschienen ist. 2004 kam die auf Spanisch geschriebene Originalausgabe heraus. Jetzt hat Erwin Goldberg das Werk ins Deutsche übersetzt. »Ich will mit meiner Lebensgeschichte zeigen, dass man immer Hoffnung haben muss, die Zuversicht nicht verlieren darf.« So sei er als Jude den Nazis entkommen und habe zwei schwere Krebserkrankungen überstanden. »Ich lebe noch, Hitler nicht mehr.«