von Tobias Kühn
Wer den Leipziger Hauptbahnhof durch den Ostausgang verläßt, glaubt sich um ein Jahrzehnt zurückversetzt. Sanierte Gründerzeithäuser stehen neben topmodernen Bürogebäuden, dazwischen verwilderte Nachkriegsbrachen mit Gestrüpp und halbwüchsigen Bäumen, vereinzelt Brandmauern und verfallene Häuser. Eine blau-gelbe Straßenbahn rattert um die Ecke und schreckt eine Schar Krähen auf. Laut krächzend stieben sie hinauf in den grauen Dezemberhimmel.
Früher ein Arbeiterviertel ist die Leipziger Neustadt heute ein Arbeitslosenquartier. 40 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter sind seit Jahren ohne Job. Die Mieten sind niedrig wie nirgendwo sonst in der Stadt, zum Teil liegen sie unter drei Euro pro Quadratmeter. An den Klingelschildern stehen neben Müller, Nitzsche und Schmidt Namen wie Abdallah, Yousef, Zakirov, Nguyen oder Kowalenko. In keinem Viertel der Stadt ist der Anteil an Migranten so hoch wie hier. Die meisten kommen aus der Türkei, Iran, Irak, Vietnam. Viele sind aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert, unter ihnen etliche Juden.
In einer Seitenstraße, die zu einer türkischen Moschee führt, lebt Sofya Antonova*. Das Haus, in dem sie wohnt, ist ein sanierter Gründerzeitbau. Im Hausflur geht man noch über die Original-Kacheln aus dem 19. Jahrhundert. Es ist dunkel, die geschwungene Holztreppe knarrt bei jedem Schritt. In der dritten Etage steht Sofya Antonova in der geöffneten Wohnungstür. Sie trägt einen roten Rollkragenpullover, ihr Haar ist straff nach hinten gebunden. Sofya Antonova ist 40, vor sechs Jahren kam sie von Moskau nach Leipzig. Sie ist alleinerziehend und hat zwei Kinder: Anna, 14, und Daniel, 9. Beide sind an diesem Vormittag in der Schule: Anna geht in ein Gymnasium, Daniel in eine Grundschule ein paar Ecken weiter.
»Wenn Daniel aus der Schule kommt, essen wir Mittag. – Sie bleiben doch?« Sofyas Stimme ist sanft, aber sehr bestimmt. Sie hat gekocht, es riecht nach Pilzen. Am runden Wohnzimmertisch, auf dem ein großer künstlicher Kirschblütenstrauß steht, erzählt Sofya von den ersten Tagen in Deutschland und von ihrer zuckerkranken Mutter. Und – es gebe da etwas, was der Gast wissen sollte. Damit er keine falschen Fragen stellt, wenn Daniel aus der Schule kommt. Sofya blickt ernst, sie sitzt auf ihrem Stuhl ganz vorn auf der Kante. »Es ist nämlich«, sagt sie leise, zögert, setzt sich aufrecht hin und legt beide Hände flach auf den Tisch. »Es ist so: Daniel weiß nicht, daß wir Juden sind. Er denkt, wir sind Rußlanddeutsche.« Sofya lächelt verlegen und zieht ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen nach oben. Schnell spricht sie weiter, versucht zu erklären: Es gebe in Daniels Klasse etliche türkische, iranische und irakische Schüler. »Viele Muslime mögen keine Juden. Es ist besser, wenn sie nicht wissen, daß wir welche sind.« Und Anna, Daniels große Schwester? Weiß sie, daß sie Jüdin ist? »O ja«, sagt Sofya und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Anna ging in Moskau auf eine jüdische Schule.«
Um 12 klingelt es an der Tür. »Das ist Daniel!«, sagt Sofya und rennt in den Flur, um auf den Türöffner zu drücken. Durchs Treppenhaus hört man Getrappel, es wird lauter und lauter, Daniel stampft in die Wohnung, ganz außer Puste. Er ist ein kleiner kräftiger Junge, sein braunes Haar ist kurz geschnitten wie bei den meisten Neunjährigen. Während Sofya Daniels Hemdkragen zurechtzupft – »er hatte Sport heute«, sagt sie entschuldigend –, fragt der Junge den Gast: »Soll ich Ihnen mal zeigen, was ich zum Nikolaus bekommen hab?« Sofya schaut verlegen herüber, der Junge saust in sein Zimmer. Sie flüstert: »Die anderen in seiner Klasse kriegen etwas. Ich möchte nicht, daß er Außenseiter ist.« Daniel kommt zurückgesaust – mit einer großen blauen Taschenlampe und drei nagelneuen Hot Wheels.
Würde das fehlende Nikolausgeschenk Daniel wirklich zum Außenseiter machen? Bekommen die muslimischen Kinder in seiner Klasse an diesem Tag etwas? »Nein«, sagt Sofya und lacht. »Aber die fühlen sich stark.« Manchmal wundert sie sich über das Selbstbewußtsein der Muslime und daß sie so gar keinen Hehl aus ihrer Herkunft machen. Sie erzählt, daß die Mutter eines Jungen aus Daniels Klasse in der Schule einmal ganz laut geschrien habe: »Deutschland ist Scheiße, die Schule ist Scheiße, die Lehrerin ist Scheiße.«
Die Lehrerin habe dabeigestanden und sei ganz höflich geblieben, sagt Sofya verwundert. »Die Muslime haben keine Angst.«
Sofya aber hat Angst. Angst um ihre Kinder, Angst vor den Muslimen, Angst vor Neonazis. Wenn Sofyas Familie spazieren geht, sprechen sie nur leise Russisch. »Das machen die meisten meiner Bekannten so. Denn manche Menschen auf der Straße schauen uns aggressiv an, wenn sie merken, daß wir Russen sind.« Es gebe bei ihr im Haus noch eine jüdische Familie, sagt Sofya. Wenn die Frau sie auf der Straße treffe, dann berühre ihr Mund fast Sofyas Ohr, so leise rede sie. »Niemand im Haus weiß, daß diese Familie jüdisch ist, nur ich. Und nur sie wissen, daß wir Juden sind.« Auch in Daniels Schule gebe es noch weitere jüdische Kinder, sagt Sofya. Man wisse es voneinander. »Aber in unserer Gegend ist es besser, man behält es für sich.«
Im Neustädter Viertel wählen viele NPD. Bei den sächsischen Landtagswahlen im September 2004 brachte es die Neonazi-Partei im Stadtbezirk auf satte 19 Prozent. Vor ein paar Wochen, erzählt Sofya Antonova, habe in ihrem Briefkasten ein NPD-Flugblatt gesteckt. Darauf stand: »Unsere Straße ist für 8 Millionen Euro saniert worden, und jetzt leben lauter Ausländer hier.« Sofya nahm es und ging damit zur Polizei. Die Beamten kannten es bereits und redeten ihr gut zu: Keine Sorge, alles sei unter Kontrolle.
Trotzdem denkt Sofya manchmal, es wäre wohl besser, in einen anderen Stadtteil zu ziehen. Doch nirgendwo sind die Mieten so günstig wie in Neustadt. Und sie möchte nicht, daß ihre Kinder die einzigen Ausländer in der Klasse sind. »Das stelle ich mir nicht angenehm vor.« Also bleibt die Familie im Viertel.
An diesem Nachmittag muß Daniel noch einmal in die Schule, zu einer AG. Jacke an, Mütze auf und zur Wohnungstür hinaus. Lautes Getrappel schallt durchs Treppenhaus. Sofya schmunzelt. Gemächlich steigt sie die Stufen hinab, die alte Treppe knarrt bei jedem Schritt. Unten angekommen hält Daniel, ganz Kavalier, seiner Mama die Haustür auf und lacht spitzbübisch. Sofya streicht ihm über den Kopf.
Draußen auf dem Fußweg schiebt eine blasse junge Frau Ende 20, Zigarette im Mundwinkel, einen zweirädrigen Karren. Sie hält vor jedem Haus und klingelt, nimmt einen Stapel des kostenlosen Wochenkuriers aus ihrem Wagen, murmelt »Danke« in die Gegensprechanlage, legt den Packen ins Treppenhaus, geht zurück und schiebt ihren Karren weiter zum nächsten Haus.
Hand in Hand spazieren Sofya und Daniel zur Schule. Nur wenige Passanten kommen ihnen entgegen. Kaum jemand ist in den Seitenstraßen unterwegs. Viele Geschäftsräume stehen leer, oft hängen Zettel in den Schaufenstern mit den neuen Adressen: Wir sind umgezogen. Vorbei an einer privaten Arbeitsvermittlung und einer kleinen Bäckerei, auch sie schließt zum Jahresende, erreichen Mutter und Sohn die Eisenbahnstraße. Sie ist die Lebensader des Quartiers: Spielotheken und Döner-Bistros reihen sich aneinander, arabische Trinkstuben, asiatische Bekleidungsgeschäfte, russische Lebensmittelläden.
Zwei Stunden später schlendern Sofya und Daniel denselben Weg wieder zurück nach Hause. Sofya schlägt ihren schwarzen Mantelkragen hoch. Es ist kalt geworden und dunkel. Einzelne Weihnachtslichter blinken durch die Fenster hinaus auf die Straße.
Zu Hause angekommen, hängen Sofya und Daniel ihre Mäntel an die Garderobe. Anna, Sofyas Tochter, ist inzwischen aus der Schule zurück. Gemeinsam gehen sie ins Wohnzimmer. Dort, sie sind ganz unter sich, zündet die Familie am Chanukkaleuchter drei Kerzen an. Keine Lieder, keine Segenssprüche. »Daniel weiß nicht, was wir da feiern, er denkt, es gehört zu Weihnachten.«
Am Sonntagabend, wenn Chanukka vorbei ist, wird die Familie Weihnachten feiern. »Ich mache gutes Essen, es gibt Geschenke, und wir sehen fern.« Nach den Ferien, sagt Sofya, werden die Kinder in der Schule erzählen müssen, was sie geschenkt bekommen haben und was es zu essen gab.
* Alle Namen von der Redaktion geändert