von Ingo Way
Alle Schlachten schienen geschlagen, alle Argumente ausgetauscht. Der Streit um die Rolle von Papst Pius XII. während des Dritten Reichs und sein angebliches oder tatsächliches Schweigen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung schien beendet.
Doch Anfang Oktober übte Shear-Yashuv Cohen, Oberrabbiner von Haifa, anlässlich des 50. Jahrestags des Todes Pius’ XII. im Gespräch mit einer italienischen Zeitung scharfe Kritik an dem früheren Oberhaupt der katholischen Kirche. »Wir können sein Schweigen im Holocaust nicht vergessen. Er sollte nicht als Vorbild gelten und nicht seliggesprochen werden«, sagte Cohen. Seit den 60er-Jahren laufen in der katholischen Kirche die Vorbereitungen zur Heiligsprechung Pius XII.; die Seligsprechung ist eine notwendige Vorbedingung für diesen Schritt. Pius XII., bürgerlich Eugenio Pacelli, war Papst von 1939 bis zu seinem Tod 1958. Papst Benedikt XVI. hatte, ebenfalls anlässlich des 50. Jahrestags, seine Zuversicht geäußert, dass das Seligsprechungsverfahren bald zu einem positiven Abschluss gelangen könnte.
Die Papst-Äußerung rief in Israel den Widerspruch von Politikern und Historikern hervor. Sozialminister Itzhak Herzog sprang am vergangenen Freitag in der Tageszeitung Haaretz dem Haifaer Oberrabbiner bei. »Die Absicht, Papst Pius XII. heiligzusprechen, ist für uns unakzeptabel«, sagte Herzog. »Mein Großvater« – Herzog ist Enkel des ersten israelischen Oberrabbiners, Isaac Herzog – »spürte nach einer Audienz beim Papst das Bedürfnis, ein Reinigungsbad in der Mikwe in Rom zu nehmen«, denn er habe Papst Pius XII. 1943 vergeblich um Hilfe zur Rettung der ungarischen Juden gebeten.
Bereits vor anderthalb Jahren kam es zu Spannungen zwischen Israel und dem Vatikan, die sich an der Bewertung Pius XII. entzündeten. Der vatikanische Botschafter in Israel, Antonio Franco, hatte sich zunächst geweigert, an der offiziellen Jom-HaSchoa-Zeremonie in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem teilzunehmen. Der Grund: Unter einem Porträt Pius XII. ist im Museum von Yad Vashem seit 2005 eine Texttafel angebracht, auf der unter anderem zu lesen ist: »Nachdem er (Pius XII.) 1939 zum Papst gewählt wurde, hat er einen Brief gegen Rassismus und Antisemitismus zu den Akten gelegt, den sein Vorgänger (Pius XI.) vorbereitet hatte. Selbst als Berichte über den Mord an Juden den Vatikan erreichten, hat der Papst weder mündlich noch schriftlich dagegen protestiert. (...) Als Juden aus Rom nach Auschwitz deportiert wurden, hat der Papst nicht eingegriffen. Der Papst hat seine neutrale Position während des gesamten Krieges beibehalten.«
Der Vatikan verurteilt diese Darstellung als »historisch komplett falsch«, so Pater Peter Gumpel. Der 84-Jährige, der im laufenden Seligsprechungsverfahren als Verteidiger fungiert, weist darauf hin, dass Pius XII. während der deutschen Besatzung Italiens Tausende Juden in Kirchen, Klöstern und Räumen des Vatikan versteckt und sie somit vor der Deportation nach Auschwitz gerettet habe. Pius XII. wird der Ausspruch zugeschrieben: »Es ist besser, in der Öffentlichkeit zu schweigen und insgeheim alles Erdenkliche zu tun.« Er habe nicht lauter und deutlicher protestiert, um die Nazis nicht noch zu reizen und um ungestört im Hintergrund helfen zu können.
Historiker des Vatikan weisen darauf hin, dass Papst Pius XII. noch sehr viel mehr unternommen habe, um den europäischen Juden zu helfen. So habe er nach dem deutschen Überfall auf Polen an die deutschen Bischöfe appelliert, gegen die Kriegsgräuel zu protestieren, wobei er explizit auf das brutale Vorgehen gegen die polnischen Juden hingewiesen habe. Im Juni 1942 habe Pius XII. seinen Nuntius in Paris angewiesen, bei General Petain, dem Chef der französischen Kollaborationsregierung, gegen die Deportationen der Juden Frankreichs Protest einzulegen. In seiner Weihnachtsansprache von 1942 habe Pius XII. von den »Hunderttausenden« gesprochen, »die ohne eigenes Verschulden, bisweilen nur wegen ihrer Nationalität oder Rasse, dem Tode oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind«. Für Pater Gumpel ist das eine eindeutige öffentliche Verurteilung des Holocaust. Kritiker monieren hingegen, dass dergleichen Stellungnahmen des Papstes immer so formuliert gewesen seien, dass sie als allgemeine Verurteilung des Krieges verstanden werden konnten, ohne Täter und Opfer beim Namen zu nennen.
Allerdings war die Haltung zu Pius XII. nicht immer so kontrovers wie heute. Es existiert etwa ein Telegramm aus dem Jahr 1945 von Isaac Herzog – jenem Isaac Herzog, auf den sich Sozialminister Itzhak Herzog beruft –, in dem dieser dem Papst für seine Unterstützung der europäischen Juden dankt. 1955 trat das israelische Philharmonieorchester im Vatikan auf, um dem Papst ebenfalls für seine Hilfe während der Nazizeit zu danken. Zu seinem Tod 1958 schickte die israelische Außenministerin Golda Meir ein Beileidstelegramm.
Die Wende kam erst 1963, als Rolf Hochhuths Theaterstück »Der Stellvertreter« uraufgeführt wurde. Darin wird Pius XII. als jemand gezeigt, der zu den Verbrechen der Nazis schweigt, weil er deren Ziele insgeheim teilt. Hochhuths Darstellung, wiewohl keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Stück fiktionaler Literatur, wurde paradigmatisch für die Wahrnehmung Pius XII. in der Öffentlichkeit. Daran änderte auch das Buch »Rom und die Juden« des Theologen Pinchas Lapide nichts, das er 1967 als »Anti-Hochhuth« konzipiert hatte. »Der Heilige Stuhl hat mehr getan, den Juden zu helfen, als jede andere Organisation des Westens, einschließlich des Roten Kreuzes. Pius XII. hat während des Krieges direkt oder indirekt das Leben von etwa 860.000 Juden gerettet«, schreibt Lapide.
Die Historiker von Yad Vashem bleiben jedoch bei ihrer Darstellung. Die Präsentation von Pius basiere auf den besten Forschungsergebnissen zu diesem Thema, heißt es in einer Presseerklärung der Gedenkstätte. »Historiker von Yad Vashem verfolgen aufmerksam alle Entwicklungen in der Forschung und alle relevanten neuen Arbeiten.« Um Unklarheiten im Bild Pius XII. auszuräumen, heißt es in der Erklärung, solle der Vatikan endlich seine Geheimarchive über die Zeit zwischen 1939 und 1945 der Öffentlichkeit zugänglich machen. Bislang sei nur ein Teil der Dokumente ausgewertet.
Dieser Forderung schließt sich der israelische Holocaust-Experte Dan Michmann an. Nur ein uneingeschränkter Zugang zu allen Akten im Vatikan könne die bisherigen Forschungsergebnisse im neuen Licht erscheinen lassen, sagt er. 1964 hatte Papst Paul VI. – wohl als Reaktion auf Hochhuth und entsprechende Forderungen des Historikers Saul Friedländer – eine Gruppe Jesuiten mit der Publikation eben dieser Dokumente beauftragt, die zwischen 1965 und 1981 in elf Bänden erschienen. Doch diese Sammlung war nicht vollständig. So setzte Papst Johannes Paul II. 1999 erneut eine Wissenschaftlerkommission ein, bestehend aus drei Katholiken und drei Juden. Die Kommission verlangte direkten Zugang zu den Archiven, was ihr vom Vatikan verweigert wurde. Inzwischen hat sich die Kommission ergebnislos aufgelöst.