Hilde Löwenstein wurde vor 100 Jahren, am 23. Juli 1909, in Köln geboren. Die Geburt der Dichterin Hilde Domin ereignete sich 42 Jahre später im Exil in der Dominikanischen Republik. »Ich, H. D., bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. (...) Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. (...) Wie ich, Hilde Domin, die Augen öffnete, die verweinten (...), verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim, ins Wort. (...) Von wo ich unvertreibbar bin. Das Wort aber war das deutsche Wort.« So heißt es in Domins eigener Darstellung, in der Leichtigkeit, feiner Witz und ein Hauch pathetischer Stilisierung den Schock der Vertreibung fast verschwinden lassen. Fast.
verlusterfahrung Die Tochter aus gutbürgerlichem Elternhaus – der Vater war ein angesehener Anwalt – erlebte mit dem Aufstieg der Nazis das Ende aller Selbstverständlichkeiten. Ihre 1932 einsetzende, jahrzehntelange Flucht, die über Italien und England schließlich in die Dominikanische Republik führte, und die durch das Exil verschärften Lebenskrisen zählen offenkundig zu den Voraussetzungen von Domins Schreiben. Unter ihren Gedichten gibt es kaum eines, das nicht geprägt wäre von der Erfahrung des Verlustes, der prinzipiell gewordenen Verlierbarkeit von Heimat und Zugehörigkeit. Deren Fragwürdigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit führt mit lapidarer Eindringlichkeit das Gedicht Mit leichtem Gepäck von 1960 vor Augen: »Gewöhn dich nicht./Du darfst dich nicht gewöhnen./Eine Rose ist eine Rose./Aber ein Heim/ist kein Heim.« Zugleich war Domin – dies bezeugen auch ihre unter dem Titel Die Liebe im Exil erstmals veröffentlichten Briefe an ihren Ehemann, den Kunsthistoriker und Übersetzer Erwin Walter Palm, aus den Jahren von 1931 bis 1959 – eine Meisterin darin, aus der trostlosen Schwere der Exilerfahrung Funken der Hoffnung zu schlagen und diese in schwerelos wirkende Verse zu verwandeln: »Ich mache ein kleines Zeichen/in die Luft,/ unsichtbar,/wo die neue Stadt beginnt,/ Jerusalem,/die goldene,/aus Nichts.«
rückkehr Als diese Zeilen entstanden, 1960, lebte Hilde Domin seit sechs Jahren wieder in Deutschland, wo gleich ihr erster Lyrikband Nur eine Rose als Stütze 1959 große Anerkennung gefunden hatte; die Gedichtsammlungen Rückkehr der Schiffe (1962) und Hier (1964) erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Die an Brecht geschulte Bündigkeit und Präzision ihrer Lyrik beeindruckte ebenso wie die Verschränkung romantischer Topoi mit einer Sachlichkeit, die sich mal ironisch, mal ernüchternd oder schlicht konstatierend in surreale Bildwelten mischte. Vor allem aber waren Domins Gedichte von einer einzigartigen Unmittelbarkeit, man möchte fast sagen: unbedingt demokratisch. Sich mitteilen, mittels der eigenen, dichterisch reflektierten Erfahrung zur Selbstaufklärung und Selbsterfahrung anstiften, war ihr erklärtes Anliegen. Als »Dichterin der Rückkehr«, namentlich zur Sprache, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer sie 1970 anlässlich der Verleihung des Droste-Preises bezeichnete, mochte sie sich vielleicht selbst sehen, stets allerdings mit dem unaufhebbaren Befremden der jüdischen Exilantin, das sie 1953 im Gedicht Wen es trifft formulierte: »Dann wird er wiederentdeckt/ wie ein verlorener Kontinent/ (...) sein Nirgendwo/ wird angekoppelt/an die alte Landschaft/ (...)/wie man einen Wagen/von einem toten Geleis/an einen Zug schiebt.«
engagement Dennoch gewöhnte sich Hilde Domin relativ rasch in der Bundesrepublik ein. Dazu trug vermutlich ihre bei aller Verletztheit und Streitbarkeit eher optimistische, konziliant und kons-truktiv getönte Haltung bei, die sie eine Verständigung mit ihren deutschen Landsleuten, vor allem mit den »Nachgeborenen« suchen ließ. Gleiches gilt für die intellektuelle Verve, mit der sie sich an öffentlichen politischen Debatten beteiligte. Entschieden trat sie gegen die in den 60er-Jahren unter anderem von Adorno proklamierte Zukunftslosigkeit der angeblich restaurativen deutschen Poesie an. In ihrem heute noch lesenswerten, 1968 erschienenen literaturtheoretischen Werk Wozu Lyrik heute? Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft bewies Domin überdies ein außerordentlich kritisches Bewusstsein für die sozialen Voraussetzungen des Literaturbetriebs. Ihre Forderung allerdings, das Gedicht sei von jedem wie ein »magischer Gebrauchsartikel« zu verwenden, auf dass die Welt ein besserer Ort werde, wirkte damals schon wie ein allzu frommer Wunsch.
Moderne klassikerin Überzeugender, zudem nach wie vor aktuell, ist Hilde Domins politische Lyrik im engeren Sinne geblieben, so überzeugend wie fast alle Gedichte, in denen sie mit den Mitteln der Kunst das Trotzdem verfocht, und deretwegen sie zu den mittlerweile klassischen deutschsprachigen Lyrikern ihrer Zeit zählt. Zum 100. Geburtstag der Dichterin am 27. Juli und kaum drei Jahre nach ihrem Tod im Februar 2006, sind sie in einer neu erschienenen Gesamtedition nachzulesen. Auch, vielleicht gerade, in Zeiten, in denen der Impetus des Begehrens und Aufbegehrens fast verschwunden zu sein scheint – überstehen werden sie weiterhin, so auch dieser Fünfzeiler: »Wer es könnte/die Welt/hochwerfen/dass der Wind/ hindurchfährt.«