Paul Spiegel

Heimkehr in die Fremde

Paul Spiegel entkam als Kind der Schoa, weil ihn katholische Bauern in Belgien versteckten. Auch seine Mutter konnte sich vor den Deutschen in Sicherheit bringen. Anders Spiegels ältere Schwester Rosa: Sie fiel den Nazis in die Hände und wurde ermordet.
Spiegels Vater hatte Auschwitz und Dachau überlebt und war nach der Befreiung in seine Heimatstadt Warendorf im Münsterland zurückgekehrt. Bald holte er Frau und Sohn aus Belgien nach. Über seine nicht ganz freiwillige Heimkehr an den Ort seiner Geburt schreibt Spiegel in seinen Erinnerungen »Wieder zu Hause?«

»Als meine Mutter mir mitteilte, daß wir statt nach Amerika nach Deutschland reisen würden, weinte ich. Deutschland, das bedeutete für mich Stiefelknallen, Alarm, sich verstecken müssen, lähmende Dunkelheit, blanke Angst. Die Deutschen waren in meiner Vorstellungswelt Riesen. Böse, gefährliche Riesen. Unter keinen Umständen wollte ich mich in ihre Fänge begeben und Mutters Beschwichtigungen, die Deutschen seien wieder gute Menschen, nachdem ihr böser Anführer Hitler von den Amerikanern besiegt worden war, tat ich als lächerlichen Tröstungsversuch ab.
»Du hat selbst gesagt, daß die Deutschen gefährlich sind, daß sie jüdische Kinder umgebracht haben und daß wir dort nichts mehr zu suchen haben und deshalb mit dem Schiff nach Amerika fahren«, versuchte ich sie auf Französisch zu überzeugen, als meine Tränen langsamer flossen. Mutter ging auf meinen logischen Einwand nicht ein. Statt dessen nannte sie den wahren Grund für ihre Entscheidung:
»Wir kehren zu Papa zurück.«
Ich hatte an Vater nur die schmerzhafte Erinnerung an seine Bartstoppeln, die mein Gesicht pieksten, als er Abschied nahm. Nun sollte dem schönen Zusammensein mit meiner Mutti, die ich nach so langer Zeit und so vieler Sehnsucht endlich ganz allein für mich hatte, durch diesen kratzenden Mann ein Ende bereitet werden! Und statt einer abenteuerlichen Seereise zu den Amerikanern, die den bösen Hitler überwältigt und mich mit Schokolade und Obst beschenkt hatten, sollten wir zu den gräßlichen deutschen Riesen zurückkehren? Nein!
Doch mein Sträuben, Heulen und Klagen blieben vergeblich. »Wir kehren zu Papa zurück!«, bestimmte Mutter. Da ich merkte, daß mein bockender Widerstand vergeblich blieb, stellte ich ihn schließlich ein. Zumal mir Mutti hoch und heilig versprach, daß wir immer zusammenbleiben würden und nichts und niemand uns trennen würde. Nie mehr. Auch nicht mein Vater. Und der, auch das versprach sie, würde nicht mehr kratzen.
Da Mutter und ich ohnehin bereit gewesen waren, Brüssel zu verlassen, brachen wir mit dem nächsten LKW-Konvoi des Roten Kreuzes nach Deutschland auf. Unser Patron, Monsieur Blomme, gab Mutter ein Paket mit allerlei Eßbarem als Abschiedsgruß mit. Wir konnten den Reiseproviant gut gebrauchen. Denn die erste Etappe unserer Fahrt legten wir auf der Pritsche eines Armeelasters zurück, auf dem es weder zu essen noch zu trinken gab.
Nach quälend langen Grenzkontrollen gelangten wir nach Deutschland. Übers flache Land ging es nach Nordosten. Abends kam unsere Lastwagenkolonne in Kevelaer an. Wir schliefen in der Kirche auf dem Boden. Nachts wurde es bitterkalt. Wir hatten keine Decken und froren erbärmlich. Neben uns hüllte sich eine Dame in einen dicken Pelz. Ihr Mann mummelte sich in ein weiches Schaffell. Nicht alle Juden sind Samariter.
Am nächsten Tag fuhren wir mit der Bahn von Kevelaer nach Krefeld. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Häuserruinen. Die Innenstadt war fast vollständig zerstört. Unsere Fahrt endete am Bahnhof Krefeld. Ich sah mich vorsichtig um, konnte aber keine Riesen entdecken. Statt dessen kam uns ein Mann entgegen, der Mutter umarmte. Als sie sich voneinander gelöst hatten, sagte Mutter, was ich mir ohnehin dachte: »Das ist dein Papa.«
Der Mann, der mein Vater war, der mich zwang, in das zerstörte Land der bösen deutschen Riesen zu kommen und der Mutters Aufmerksamkeit von mir ablenkte, war immerhin klug genug, sich nicht bei mir anzubiedern oder um meine Aufmerksamkeit zu buhlen. Heute weiß ich, daß dieses Verhalten nicht spitzfindigen Überlegungen entsprang, sondern seinem geraden, unverstellten Charakter. Mein Vater war stets er selbst. Er hatte es nicht nötig, seine Gefühle zur Schau zu stellen. Er liebte seine Kinder. Doch er spürte, daß er seinem Sohn fremd sein mußte und übertriebene Gesten, zu denen er ohnehin nicht neigte, lediglich auf Abwehr stoßen würden. So blieb mir eine kratzige Umarmung erspart. Vater begnügte sich damit, mir die Hand zu schütteln.
Er nahm Mutter ihr Köfferchen ab und führte uns zu seinem Auto. Ein Mercedes! Immerhin. Ich hatte noch nie in einem solchen Auto gesessen. Während der Fahrt unterhielten sich meine Eltern. Sie sprachen rasch und in einer Mundart, die mir fremd und unverständlich war. Den Inhalt ihrer Unterhaltung aber begriff ich. Vater fragte nach Roselchen, und meine Mutter konnte ihm keine Antwort geben. Dann schwiegen sie beide. Ich spürte ihre Beklommenheit.
Wir wohnten im ersten Stock über dem Lederwarengeschäft am Krickmarkt. Der Hausherr Heinrich Baggeroer und seine Frau Käthe waren freundlich zu mir, keine bösen deutschen Riesen. Wir hatten zwei Zimmer! Ein Schlafzimmer und einen kleinen Nebenraum, in dem ich auch spielen konnte. Nachts schlief ich bei meinen Eltern. Zumindest vorläufig. Wegen der Riesen. Als ich am ersten Morgen erwachte, war das Bett leer. Ich schlich ans Fenster und guckte auf die Straße. Die Menschen sahen normal aus. Keine Riesen. Mama kam ins Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett und nahm mich auf den Schoß. »Alles wird gut, Paul! Papa hat uns gefunden. Jetzt muss nur noch Roselchen zurückkommen. Dann sind wir wieder eine glückliche Familie.« »Hier?« »Ja, hier.«
Mutter versicherte mir, daß es keine deutschen Riesen gebe und daß ich keine Angst haben müsse. Ich versuchte ihr zu glauben. Trotzdem spähte ich immer wieder auf die Straße. Riesen konnte ich tatsächlich nicht entdecken. Vorläufig. Stattdessen lernte ich Theo und Marlies ken- nen. Die Kinder unserer Gastgeber waren, soweit ich sehen konnte, ganz in Ordnung, nur verstand ich so schlecht, was sie sagten. Und als mich Mutter animierte, mit ihnen zu spielen, lehnte ich ab. Ich wollte nicht auf die Straße. Sicherheitshalber. Und in die Schule wollte ich erst recht nicht.
Mutter erklärte mir, das Schuljahr habe begonnen und ich müßte wie jedes Kind zum Unterricht gehen. Genau wie in Belgien, zu Hause in Chapelle-lez-Herlaimont und später in Brüssel. Ich hatte große Sehnsucht nach Luc und meiner Tante und dem Onkel. Aber schließlich mußte ich mir eingestehen, daß es wohl keine Aussicht gab, dorthin zurückzukehren. Denn ich wollte bei meiner Mutter bleiben und sie bei meinem Vater. Selbst meine Angst vor den deutschen Riesen ließ nach. Ich versuchte die deutsche Sprache zu sprechen und traute mich bald auf die Straße. Das Ansinnen meiner Eltern aber, die Schule zu besuchen, wollte ich nicht befolgen. Auch, als mein Vater ganz unaufgeregt mit mir sprach und mir deutlich machte, jeder Mensch habe Pflichten – er müsse arbeiten und ich lernen –, blieb ich bockig. Vater aber ließ sich auf keine Widerrede ein. Mit den Worten »Dir wird nichts übrig bleiben, als in die Schule zu gehen«, beendete er unseren Disput.
Am nächsten Tag hielt mich auf der Straße ein Polizist an. Er fragte mich, warum ich nicht in der Schule sei. Meine kleinlauten Ausflüchte ließ der strenge Ordnungshüter nicht gelten. »ll faut tu aller a l’ecole!«, ermahnte er mich. Ich lief schnell nach Hause und verkündete dort, daß ich unbedingt zur Schule wolle. Meine Mutter versprach mir, mich am nächsten Tag anzumelden. So geschah es.
Erst Jahre später, als mir diese kleine Szene wieder einfiel, wurde mir bewußt, dass der Polizist Französisch gesprochen hatte. Ich fragte meine Mutter. Sie brach in schallendes Gelächter aus. »Das war Papas Idee. Er meinte, wenn du nicht auf deine Eltern hörst, dann gewiß auf die Polizei. Und damit du den Polizisten auch
verstehst, hat er ihn gebeten. Französisch mit dir zu sprechen.« Mutter gewöhnte sich nach anfänglichem Widerstand rasch an das Leben im Münsterland. Sie fuhr in ihren Heimatort Rheda und besuchte Menschen, die sie lieb behalten hatte. Ihre Freundin Anny Nolte berichtete mir, daß Mutter bereits im September 1945, also wenige Wochen nach unserer Rückkehr, wieder bei ihr war.
In diese Zeit fällt auch ein anderes unvergeßliches Ereignis. Nachdem Heinrich Baggeroer meinem Vater die Thorarolle und die Gebetbücher übergeben hatte, tat der alles, um die Heilige Schrift wieder an einem würdigen Platz in Warendorf unterzubringen, und das konnte nur ein Thoraschrein in einem Bethaus sein. Doch die Synagoge in der Freckenhorster Straße war zerstört.
Mein Vater aber ließ sich nicht beirren. Er drängte die Stadt, ihm zu helfen, der Thorarolle und den Betenden ein Haus zur Verfügung zu stellen – und hatte endlich Erfolg. Am 7. September 1945 wurde in einem Nebenraum der verwüsteten Synagoge ein kleiner Betraum eingeweiht. Jüdische Soldaten der britischen Armee hielten gemeinsam mit meinem Vater einen Gottesdienst ab. Die Thorarolle wurde in ihrem neuen Schrein abgelegt. Es war, soviel ich weiß, der erste jüdische Gottesdienst in Westfalen nach 1945, den ich bewußt erlebt habe. Ich war fast acht Jahre alt.
Inzwischen ging ich auf die Dammschule. Ein halbes Jahr zuvor hatte sie noch Adolf-Hitler-Schule geheißen. Damals wußten das aber weder meine Eltern noch ich. Ich habe es erst vor kurzem erfahren, als ich an meinen Erinnerungen zu arbeiten begann. Damals fragten mich die Lehrer nach Rosa, die 1937 und 1938 ihre Schülerin gewesen war. Als ich ihnen sagte, daß sie verschwunden sei und wir noch immer nichts von ihr gehört hätten, gingen die Pädagogen besonders verständnisvoll mit mir um. Auch die meisten Schüler. Aber es gab auch Ausnahmen.
An meinem ersten Schultag wurde ich während der großen Pause von einem Jungen als »Saujude« beschimpft. Ich konnte zwar fast kein Deutsch, aber was das Wort bedeutete, war mir ganz klar. Ich stürzte mich auf ihn. Ein Freund kam ihm zu Hilfe. Am Ende schlich ich wie ein geprügelter Hund nach Hause. Ich erzählte meinen Eltern kein Wort. Aber meine Schürfwunden und blauen Flecken waren ebenso unübersehbar wie meine gedrückte Stimmung. Meine Mutter tröstete mich. Als Vater abends von meiner Schmach hörte, lief er rot an vor Zorn. »Das wird dir nie wieder passieren, mein Sohn!«, versprach er. Er hielt Wort.
Am nächsten Morgen tauchte während der Pause ein britischer Militärpolizist in der Schule auf. Einige Tage lang begleitete er mich dann nach Hause. Doch es ist nie wieder etwas geschehen. Offenbar hatte Vater dem Schulleiter sehr deutlich gemacht, er sei nicht bereit hinzunehmen, daß ein Jude in Warendorf wieder beschimpft und geschlagen werde. Das Auftauchen des englischen MPs verlieh Vaters Worten wohl noch Nachdruck.
Im Laufe meines Lebens habe ich es mir zur Regel gemacht, aus jeder Begebenheit, vor allem aus negativen Erlebnissen zu lernen. Auch aus Beleidigungen und Prügel. Mein Vater hat mir beigebracht: Laß dir nichts gefallen. Von niemandem. Wir Juden haben genug durchgemacht. Wir müssen uns rechtzeitig und energisch zur Wehr setzen.
Und noch etwas habe ich im Herbst 1945 erfahren, was ich erst mehr als ein halbes Jahrhundert später erneut brauchen konnte: Manchmal muß man sich schützen lassen. Seit ich Präsident des Zentralrats der Juden bin, werde ich fast rund um die Uhr von Sicherheitsbeamten bewacht. Ich habe mich daran gewöhnt, weil ich weiß, daß dies leider notwendig ist. Wenn man frei bleiben und seine Meinung äußern will, muß man bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. Das gilt natürlich nicht nur für Juden, sondern für alle Bürger einer freien Gesellschaft.«

paul spiegel: wieder zu hause?
erinnerungen
Ullstein, Berlin 2003, 296.S., 8,95 €

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