Die Tage von Rosch Haschana und Jom Kippur und die dazwischenliegenden Tage der Um-
kehr heißen auf Hebräisch Ja-
mim Noraim, Tage der Ehrfurcht. Im Deutschen fällt die Bezeichnung etwas weniger wuchtig aus, hier heißt die Zeitspanne die Hohen Feiertage oder Hochheiligen Tage.
Das Wort heilig klingt gut, kann aber die Größe, Erhabenheit und Spannung dieses Zeitraums im jüdischen Kalender nicht vermitteln. Ganz allgemein glaube ich, dass der Begriff der Heiligkeit als solcher in der modernen westlichen Gesellschaft überhaupt nicht vorhanden ist. Nichts ist heilig, keinerlei Verhaltensnormen, Sprachnormen, Kleidervorschriften müssen eingehalten werden. Heiligkeit erfordert die Fähigkeit zur Distanzierung von der Alltagswelt und die Fähigkeit, Denken und Verhalten auf eine Ebene zu erheben, die einem vorher unerreichbar erschien.
Gott gebot dem jüdischen Volk, eine heilige Nation zu sein. Er gebot jedem Einzelnen, ein heiliger Mensch zu sein. Er fordert, das Außergewöhnliche als unsere Normalität anzusehen und uns unserer Sonderrolle im Leben und in der Geschichte stets bewusst zu sein. Rabbi Yisrael Lipkin aus Salant sagte vom Monat Elul – der Monat der Selbstprüfung und Buße –, dass ein Jude sich das ganze Jahr hindurch so fühlen sollte, als sei Elul. Das gleiche Prinzip kann auf Heiligkeit angewendet werden. Es wird von uns gefordert, dass wir das ganze Jahr hindurch heilig sind – schon gar an den Tagen der Heiligkeit, Jamim Noraim.
Denken Heiligkeit fängt mit dem Denken an. Sich einen heiligen Sinn zu erwerben angesichts der säkularen Gesellschaft, in der wir leben, ist sehr schwierig. Jemand, der im Denken Heiligkeit erfasst, wird unweigerlich auch zu heiligen Taten und heiligem Verhalten geführt. In der jüdischen Welt werden immer wieder Kampagnen gestartet, die über die Gefahren von Fernsehen und Internet aufklären sollen. Sicher ist die Technologie an sich neutral, und in beiden Medien gibt es viel Wertvolles. Doch kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass sie ein ebenso großes Potenzial an schädlichen Einflüssen bergen. Es ist schwierig, einen heiligen Sinn zu haben, wenn er von un-
heiligen Bildern und Fantasien erfüllt ist.
Verhalten Die Rabbiner haben uns gelehrt, dass heiliges Verhalten nicht nur das Ergebnis einer strikten Befolgung der Vorschriften ist. Selbst wenn man Dinge tut, die erlaubt sind, muss man es mit einem Gefühl von Heiligkeit tun. Es ist Teil der Erkenntnis, dass das Leben etwas Besonderes ist, nichts darf als gewöhnlich oder alltäglich angesehen werden. Wenn wir das in unseren Augen »Gewöhnliche« als selbstverständlich hinnehmen, werden wir daran gehindert, ein Gefühl von Heiligkeit und göttlicher Bestimmung zu gewinnen.
Natürlich spiegelt Heiligkeit sich in unserem Verhalten. Die Tora will, dass wir heiter im Gemüt und nicht griesgrämig sind; voller Akzeptanz und nicht voller Ressentiments; optimistisch und nicht trübselig. Im Talmud heißt es, der Geist Gottes könne nicht auf solchen Menschen ruhen, die stets traurig, pessimistisch sind und von dem Gefühl erdrückt werden, sie seien betrogen worden und der Alltag halte nichts als Frustrationen bereit. Eine heitere Persönlichkeit ist eine große Hilfe, die Ebene einer heiligen Sprache zu erreichen, einer Sprache, die frei ist von Verleumdung, Zorn und Unflat.
Rede In einer Welt, in der die Idee der Re-
defreiheit jegliches vernünftige Maß verloren hat, fordert die Tora, dass wir unsere Zunge und unsere Worte unter Kontrolle halten. Die Heiligkeit des Geistes führt zu einer Heiligkeit der Zunge. Und dies wie-
derum führt einen Menschen zur Heiligkeit im Handeln und zu einem Gefühl von Heiligkeit in allen Aspekten des Lebens.
Beziehungen zwischen Menschen können auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn ein Sinn für Heiligkeit die Verbindung erfüllt. Es ist dieser Sinn für Heiligkeit, durch den ein Mensch lernt, andere zu schätzen und offen zu sein für ihre Bedürfnisse und sogar für ihre Schwächen.
Auch über Hingabe und Engagement wird Heiligkeit erzielt. Viele Menschen führen ein Leben ohne Ziel, beherrscht von Langeweile und Routine. Hingabe an die Werte der Tora, an das Studium und die Befolgung der Vorschriften der Tora und Hingabe an die Vorstellung des Dienstes an Gott und den Menschen verleihen dem Dasein Heiligkeit, machen es sogar aufregend und spannend.
Einen Sinn für Heiligkeit zu erlangen, ist schwierig. Selbst wenn man ihn einmal gewonnen hat, geht er leicht wieder verloren. Die Jamim Noraim sind dazu da, uns in unserem Bemühen zu unterstützen, im Leben und in der Familie Heiligkeit zu erlangen und zu bewahren.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com