von Britta Petersen
Das Schicksal hat es gut gemeint mit Samuel Marshall. Eine halbe Stunde, bevor am Mittwoch vergangener Woche Terroristen das altehrwürdige Taj-Mahal-Hotel in Indiens Finanzmetropole Bombay stürmten und dort ein Blutbad anrichteten, verließ der israelische Geschäftsmann das Gebäude. »Ich wollte eigentlich wieder zurück- kommen und mein Gepäck abholen, aber dann kam etwas dazwischen. Ich hatte wirklich großes Glück.«
Doch Marshall wird nicht mehr froh, denn er hat einen Menschen verloren, der ihm viel bedeutet hat: den jungen Chabad-Rabbiner Gavriel Holtzberg, 29. Er und seine Frau Rivka, 28, wurden im Nariman House, dem Jüdischen Zentrum im Süden Bombays, von den Männern erschossen, die die Millionenstadt drei Tage lang terrorisiert hatten. Indische Sicherheitskräfte begannen am Freitagmorgen mit der Erstürmung des Gebäudes. Soldaten seilten sich von Hubschraubern auf das Dach des Nariman-Hauses ab, andere rückten vom Boden aus vor.
Von dem mehrstöckigen Betongebäude in der Hormusji Street, das nicht nur ein religiöses Zentrum war, sondern auch eine bei israelischen Touristen beliebte Herberge mit koscherem Restaurant, ist nicht viel übriggeblieben, nachdem es die indische Polizei am Freitag gestürmt hatte.
Wie Knochen ragen am Tag darauf die Rahmen aus leeren Fensterhöhlen, durch die man von der Straße Polizisten mit Mundschutz bei der Spurensicherung sehen kann. Sechs jüdische Geiseln verloren hier ihr Leben: der Rabbiner und seine schwangere Frau und vier Gäste, unter ihnen zwei weitere Rabbiner.
Mojshe, der kleine Sohn der Holtzbergs, der am Samstag zwei Jahre alt wurde, konnte an der Hand seines indischen Kindermädchens Sandra Samuel durch einen Seitenausgang entkommen. Marshall kämpft mit den Tränen: »Noch bevor er selbst ermordet wurde, hat Rabbi Holtzberg seine toten Frau in einen Tallit gewickelt.«
Marshall hat oft mit dem Rabbiner über religiöse Fragen geredet. »Rabbi Holtzberg hat mich Gott nähergebracht«, sagt er. Die beiden Männer lernten einander kennen, als der junge Rabbiner vor fünf Jahren aus den USA nach Bombay kam. »Er war ein Missionar«, sagt Marshall zögernd, wie einer, dem das eigentlich fremd ist. Dann schiebt er schnell hinterher: »Er hat sich um alle Israelis gekümmert, die nach Indien kamen. Er wollte, dass sie zu ihrem Judentum zurückfinden.« Seit Holtzbergs Ankunft in Indien (siehe untenstehendes Interview) ist es Chabad gelungen, acht weitere Zentren zu eröffnen, unter anderem in den Urlaubsorten Manali, Rishikesh und Goa. Die Gruppe kümmert sich auch um die Drogenprobleme junger israelischer Rucksacktouristen, die in großer Zahl jedes Jahr nach Indien kommen – meist, um die Strapazen des Militärdienstes zu vergessen.
Offenbar verfügte der junge Rabbiner über eine große Begabung, mit Menschen umzugehen. Göttliche Inspiration, wie seine Anhänger meinen. Dazu gehörten auch originelle Ideen, die nicht immer auf Zustimmung stießen. »Er wollte, dass die Juden wieder jüdisch werden. Das war sein Ziel. Noch am vergangenen Freitag hat er hier bei uns gebetet«, sagt Salomon Sopher, Vorsitzende der konservativen Keneseth-Eliyahoo-Gemeinde. Der massige Mann mit der schwarzen Mähne weint bitterlich beim Abschiedsgottesdienst.
Vermutlich wurde dem jungen Rabbiner seine Offenheit zum Verhängnis. Sein Haus verfügte über keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Jeder, der kam, war willkommen. »Rivka hat meiner Frau erzählt, dass sie sich einmal über zwei Gäste gewundert habe, die nie zu den Gebeten kamen«, sagt Marshall. »Wahrscheinlich haben die das Zentrum ausspioniert.« Nach Informationen der Zeitung »Times of India« sollen mehrere Terroristen in dem Zentrum zuvor für kurze Zeit gewohnt haben. Sie hätten sich als malaysische Studenten ausgegeben.
Wenige Stunden nachdem die Sicherheitskräfte am Freitagnachmittag das Chabad-Haus eingenommen hatten, waren Freiwillige der ultraorthodoxen Organisation ZAKA aus Israel zur Stelle, um die sterblichen Überreste der jüdischen Opfer aus den Ruinen in Sicherheit zu bringen.
Die jüdische Gemeinde Indiens ist verunsichert und ringt um Fassung. »Ich glaube nicht, dass dieser Terror ein Angriff auf die jüdische Gemeinde Bombays war«, sagt Salomon Sopher. »Wir sind noch nie angegriffen worden. Die Israelis lieben Indien, weil es hier keinen Antisemitismus gibt. Das war ein Angriff auf Ausländer, und der Rabbi war Amerikaner und Israeli.«
Frischen Wind hat er in die alte jüdische Gemeinde Bombays gebracht, der junge Rabbiner. Doch er blieb ein Fremder.