von Julius H. Schoeps
Das deutsche Judentum ist mit der Hitlerdiktatur so gut wie vollständig ausgelöscht worden – und das, was wir deutsch-jüdisches Erbe nennen, kämpft seither mit dem Stigma der Heimatlosigkeit. Auch das gegenwärtig in Deutschland sich wieder neu formierende Judentum hat Schwierigkeiten, sich des deutsch-jüdischen Erbes anzunehmen. Der Grund dafür ist einfach: Die heutigen jüdischen Gemeinden stehen nicht mehr in der Kontinuität des einstigen deutschen Judentums, sondern sind an vielen Orten mittlerweile »russisch geprägt«. Die Pflege des deutsch-jüdischen Erbes hat deshalb die nichtjüdische Umgebungsgesellschaft übernommen. In vielen Städten und Gemeinden in Deutschland kümmern sich Nichtjuden, hauptsächlich Laien, um die Aufarbeitung der lokalen jüdischen Geschichte. Sie leisten zum Teil hervorragende Arbeit, bemerken aber nicht, dass sie sich ein virtuelles Judentum konstruieren. Hinter den Ausstellungen, die sie organisieren, hinter den Synagogen, die sie wieder aufbauen und hinter den jüdischen Museen, die sie gründen, steckt zumeist der Wunsch, etwas sichtbar zu machen, was nicht mehr zu sehen ist. Es sind Bemühungen, die nachvollziehbar sind, aber gleichzeitig spüren lassen, dass sie ein gewisses Moment der Vergeblichkeit und des Scheiterns beinhalten.
Deutlich wird dieses Phänomen auch an der Zahl einschlägiger Buchpublikationen, die den Verlust beklagen, den Deutschland und die deutsche Kultur durch die Schoa erlitten haben. Zahlenmäßig übertreffen sie alles, was zu anderen Themen erscheint, wie etwa der Vertreibung der Deutschen aus den früheren Ostgebieten, zu dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg oder dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR. Keines dieser Themenfelder weckt nur ansatzweise ein vergleichbares Interesse und erzeugt schon gar nicht das Bedürfnis, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Das starke Bedürfnis, sich mit dem deutsch-jüdischen Erbe zu beschäftigen, zeigt sich ebenfalls in den Bemühungen von Universitäten, Studiengänge einzurichten, die »Judaistik« oder »Jüdische Studien« heißen. Die dort eingeschriebenen Studenten sind hauptsächlich daran interessiert, zu erfahren, wie und warum das deutsch-jüdische Experiment des Zusammenlebens gescheitert ist. Sie gehen dieser Frage akribisch nach, lernen Hebräisch, Jiddisch und sogar Ladino, machen Exkursionen nach Auschwitz, absolvieren Studienjahre in Israel, fertigen Magisterarbeiten an und schreiben Dissertationen. Die Leistungen auf diesem Feld sind beachtlich und übertreffen teilweise bei Weitem das, was an Forschungsarbeit vor 1933 an deutschen Universitäten geleistet wurde. Der Unterschied zu damals ist nur der, dass es nicht Juden, sondern in der Mehrzahl Nichtjuden sind, die sich als Dozenten und Studenten des Faches »Jüdische Studien« annehmen.
Das Bild des Judentums, das so, mehr unbewusst als bewusst, vermittelt wird, ist allerdings eines, das sich die heutige Umgebungsgesellschaft von den Juden macht. Es ist ein problematisches Bild, weil es mit der Wirklichkeit nur wenig und mit der Wirklichkeit des einstigen deutschen Judentums schon gar nichts zu tun hat. Die nichtjüdische Welt fantasiert sich in Ermangelung eines Bildes von lebenden Juden ein Judenbild zusammen, das irgendwo zwischen »Anatevka«, der Karikatur des jiddelnden Schnorrers und dem für die Orthodoxie stehenden osteuropäischen Kaftan-Juden angesiedelt ist.
Wer das authentische deutsch-jüdische Erbe sucht, findet es rudimentär außerhalb Deutschlands, in Israel und in den USA. 240.000 jüdische Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland haben insbesondere in Palästina und den Vereinigten Staaten zumindest zeitweilig und an bestimmten Orten ein deutsch-jüdisches Milieu bilden können. Die 50.000 »Jeckes«, die nach Palästina einwanderten und sich dort eine neue Heimat aufbauten, haben die mitgebrachte kulturelle Tradition in Salons, Konzertsälen, Zeitungen und Vortragsveranstaltungen liebevoll gepflegt. Sie taten es und tun es heute noch, und zwar so gut sie können, häufig nicht wissend, dass die Kultur, in der sie aufgewachsen sind und die sie mitgebracht haben, eine sterbende Kultur ist. Sie halten dennoch an ihr fest, weil sie nicht anders können und weil sie auf diesem Erbe als Teil ihrer Identität bestehen.
In den Vereinigten Staaten verlief der Anpassungsprozess der aus Deutschland stammenden Juden an die Umgebungsgesellschaft sehr viel unproblematischer als in Palästina beziehungsweise später in Israel. Die deutsche Herkunft spielte hier nur noch eine periphere Rolle. Der amerikanische Pass, den man nach einiger Zeit erhielt, führte dazu, dass man sich in erster Linie als amerikanischer Staatsbürger verstand, nicht als Exilant oder Einwanderer. Die Folge war, dass die Erinnerungen an Deutschland und die Herkunft aus dem deutschen Judentum zusehends verblassten. Das deutsch-jüdische Kulturerbe ist dennoch gerade in den USA in vielerlei Hinsicht noch nachweisbar. Das dortige liberale Judentum beispielsweise ist stark vom deutsch-jüdischen Kulturerbe beeinflusst. So wissen die Vertreter dieses Judentums noch etwas mit dem Namen Abraham Geiger, aber auch mit dem von Leopold Zunz anzufangen. Das gilt auch für die Synagogalmusik eines Louis Lewandowski und den einst in Deutschland vor 1933 geübten Liturgiestil. Beides ist vom amerikanischen liberalen Judentum übernommen worden. Dieses, wenn man so will, angenommene Erbe ist heute erkennbarer Bestandteil der amerikanisch-jüdischen Kultur der Gegenwart. Doch es ist in ihm quasi aufgehoben, führt keine eigenständige Existenz mehr. Und in Israel stirbt mit den letzten Jeckes auch deren Kultur unwiderruflich aus.
Die Pflege des deutsch-jüdischen Erbes wird, ob man will oder nicht, so auch künftig auf den deutschsprachigen Kulturraum angewiesen bleiben. Ob es in Deutschland fortexistieren kann, hängt aber auch davon ab, ob die nichtjüdischen Deutschen bereit sind, sich dieser Tradition anzunehmen. Börne und Heine müssen genauso wie Goethe und Schiller als dem deutschen Kultur-kanon zugehörig begriffen werden. Nur wenn dieses Erbe nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas Eigenes angesehen wird, besteht die theoretische Chance, dass die deutsch-jüdische Kulturtradition wenigs-tens in Ansätzen weiterleben kann. Es sollte dann aber, bitte, auch das authentisch deutsch-jüdische Erbe sein und nicht irgendeine jiddelnde Karikatur.
Der Autor ist Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam.